Sakrale Texte
War das alles nur ein Traum?
Als ich morgens mit einem cremigen Kaffee auf meinem Balkon saß und die gedruckte Ausgabe meiner Zeitung las, stieß ich auf eine ganzseitige Anzeige des Literaturhauses Augsburg. „Sakrale Texte“ stand dort geschrieben und „am 5. Dezember in der Kapelle Kein Roter Elefant“ im neuen Domizil des legendären Kunstvereins Schöne Felder. Ich war außer mir vor Freude, denn ich war wie die meisten von uns auf der Suche nach Sinn. Und ich wollte ein interessantes Leben leben. Eine Veranstaltung mit einem solchen Titel versprach beides. Sofort rief ich die Website des Literaturhauses Augsburg auf, um eine Karte zu laufen. Nichts! Ich öffnete Instagram auf meinem iPhone. Auch nichts! Ich wurde panisch. Was, wenn ich zu spät dran war? Heute musste mindestens schon der 1. Dezember sein, und ich hatte noch kein Ticket! Ichgriff zum Hörer meines Festnetztelefons und drehte die Wählscheibe, um die Zeitungsredaktion anzurufen. Am anderen Ende der Leitung antwortete eine dünne Stimme, die sehr weit weg schien.. Es handelte sich um einen gewissen Herrn M. aus der Feuilletonredaktion.
Herr M
„***-Zeitung, Feuilleton-Redaktion, M. am Apparat. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Emil P
„Hallo, hier spricht Emil P. Ich möchte bitte eine Karte für die Veranstaltung „Sakrale Texte“ kaufen, die Sie heute in Ihrer Zeitung beworben haben. Hallo? Hallo? Hören Sie mich??“
Rauschen in der Leitung
Herr M
„Ja! Herrgott! Wir sind doch hier kein Kartenvorverkauf, Herr P! Wir sind eine der wichtigsten Zeitungen dieser Region, ach was, des LANDES!“
Emil P, nervös
„Es gibt nirgendwo Karten zu kaufen! An wen soll ich mich denn sonst wenden?“
Herr M seufzt.
„Hach! So läuft das immer bei Veranstaltungen des Literaturhauses. Die machen das absichtlich, um das Publikum abzuschrecken. Denn zuvor waren sie immer schon innerhalb einer Minute total ausverkauft. Jetzt weiß keiner, wann genau und wo etwas stattfindet, und trotzdem ist es immer brechend voll! Das haben sie von Thomas Pynchon, Prince und Elena Ferrante kopiert.“
Emil P
„Ach, wirklich?“
Herr M
„Jaaahaaa!! Nicht mal wir, eine der bedeutendsten Zeitungen Deutschlands, können uns sicher sein, eine Presseakkreditierung zu bekommen. Mal klappt es, mal nicht.
Emil P
„Nein! Wirklich?“
Herr M
„Es ist ja auch logisch, denn es sagen alle, dass sie derartige Events noch nie erlebt hätten. Man weiß nie, was auf diesen Veranstaltungen passiert. Einmal gab es eine Prügelei auf der Bühne, ein andermal tauchte plötzlich der berühmte Autor Leif Randt auf und las aus seinem Roman Let’s Talk about Feelings, obwohl es eigentlich um Schiffsmotoren gehen sollte. Wenn Sie sich vormittags anstellen, kommen Sie aber bestimmt rein.“
Emil P
„Ihr Wort in Gottes Ohr! Ich vertraue Ihnen…Wissen Sie denn, wo diese Kapelle ist?
Doch Herr M, der berühmte Kultur-Redakteur, hatte längst den Hörer auf die Gabel geknallt.
Vier Wochen später, also am 5. Dezember 2025, machte ich mich per pedes auf in die Oberstadt. Ich hatte einen Rucksack mit einem Zelt umgeschnallt und trug einen Anzug von Anderson & Sheppard mit Drape Cut und gelbem Einstecktuch. Leider war es mir unmöglich zu eruieren, wo die neue Villa des legendären Kunstvereins Schöne Felder genau war, geschweige denn die hauseigene Kathedrale mit dem wunderbaren Namen Kein Roter Elefant.
Fröhlich gestimmt, begann ich den langen Aufstieg auf den Klinkerberg. Nach 7,3 Stunden kam ich schließlich am höchsten Punkt an und sah hinüber auf die andere Seite. Ich nahm Anlauf und sprang mit einem Satz hinüber in die Schaetzlerstraße. Elegant landete ich - wie Rilkes Schwan, der im Wasser schwebt - vor einem Dienstboteneingang. Dort erblickte ich einen extrem kleinen Mann, der angelehnt an eine Straßenlaterne eine Zigarette rauchte. Ich schaute ihm tief in die Augen, um ihn von mir einzunehmen.
Emil P
„Zwerg! Wie ist Dein Name?“
Uriel
„Mein Name ist Uriel, Herr! Der Bewacher des Paradieses mit dem flammenden Schwert. Wie kann ich Dir dienen?“
Emil P
„Ich sehe kein flammendes Schwert, und ich sehe hier kein Paradies! Sag mir lieber, wo die Kathedrale Kein Roter Elefant ist!“
Uriel
„Ich bewache eben diese Kathedrale. Oh. Was wollen Sie denn da, Herr? Das ist ein gefährlicher Ort.“
Emil P
„Also ist die Kathedrale Kein Roter Elefant das Paradies?! Dann muss ich da sofort hin! Ich bin auf der Suche nach dem Sinn, musst Du wissen. Ich habe Dich nicht um Deine Meinung gebeten, Zwerg! Sag mir einfach, wohin ich gehen muss! Hier soll heute eine Lesung von Zauber-Texten stattfinden, die Seelenheil versprechen. “
Uriel
„Natürlich, Herr. Folge mir. Auf eine Sache musst Du achten: Trete genau in meine Fußstapfen, nicht links, nicht rechts davon! Hier ist alles vermint.“
Emil P
„Was? Minen? Ist das metaphorisch gemeint? Naja, es ist kurz vor acht Uhr! Ich muss es zur Lesung schaffen. Führe mich zur Kathedrale!“
Uriel kicherte. „Wir sind schon da.“
Emil P
„Ich sehe keinen Glockenturm, kein Mittel- und kein Seitenschiff, keine Menschen, nichts! Du willst mich wohl veralbern, Zwerg? Ich bin extra früh gekommen, um der Lesung beiwohnen zu können. Sieh nur, ich habe ein Zelt auf dem Rücken!“
Uriel
„Das wirst Du nicht brauchen. Du bist der erste.“
Er schnipste seine Zigarette in den Rinnstein und schritt voran. Uriel ging um die Ecke, und ich folgte ihm vorsichtig nach. Dann stand ich allein vor einer Wand. Der Zwerg war verschwunden. Ich sah mich überall um. Keine Spur von Uriel. Ich rieb mir die Augen. Wie konnte das sein? Ich habe doch mit eigenen Augen gesehen, wie er um die Ecke lief! Plötzlich ragte ein Arm aus der Mauer, die nun plötzlich nicht mehr grau war, sondern in den verschiedensten Farben leuchtete, und winkte nach mir. Etwas ähnliches wie Staub rieselte vom Arm des Zwergen in Zeitlupe auf den Boden. Ich griff danach und wurde in die Mauer hineingezogen. Als ich meine Augen wieder öffnete, stand ich in einer riesigen Kirche. Aber die Kirche war keine herkömmliche Kirche. Das Chorfenster aus Buntglas stellte eine Art roten Elefanten dar. Wo die Sitzbänke sein sollten, war eine bemooste Wiese, über der Nebel in der Luft hing. Es roch extrem nach Weihrauch. Uriel kniete mit dem Rücken zu mir. Vorne auf dem Altar stand ein Beamer, der das Logo des Literaturhauses Augsburg an die Wand warf. Mehr und mehr Menschen strömten von allen Seiten in die Kathedrale. Sie verteilten sich auf die Seitenschiffe, nahmen auf kleinen Mooshügelchen Platz und schauten hoch zur Kanzel. Uriel war indessen nicht mehr zu sehen. Er musste sich bekreuzigt und irgendwohin gesetzt haben. Während ich mir einen Mooshügel aussuchte, trat eine Person, die aussah wie ein Priester, hinter einem schweren roten Samtvorhang heraus auf die Kanzel. Wie von Geisterhand lichtete sich der Nebel. Es war Dr. D, das geistige Oberhaupt des Literaturhauses Augsburg. Sie war so weise und belesen, dass große Staatsmänner ihren Rat einholten, wenn sie eine Krise zu meistern hatten. Mit Ehrfurcht blickten die vielen tausend Menschen hoch zur Kanzel.
„Liebe Augsburgerinnen und Augsburger. Willkommen zu unserer spirituellen, bewusstseinserweiternden Lesung in der Kathedrale Kein Roter Elefant.“ Alle applaudierten verzückt. Nun ging sie dazu über, die vielen Gäste – ich zählte mindestens 400 – alle persönlich zu begrüßen. Das dauerte mindestens zwei Minuten. Im Hintergrund spielte sich währenddessen ein Dramolett ab, in dem Herr M von der berühmten lokalen Zeitung die Hauptrolle spielte. Dieser hatte sich nämlich unerlaubt in die Veranstaltung eingeschlichen und wurde jetzt von zwei riesigen Schränken in schwarzen Anzügen unter Protest hinausbegleitet. „Wissen Sie denn, wer ich bin?“ schrie Herr M außer sich. Nach einer kleinen Pause fuhr Dr. D schließlich ungerührt fort. Mit einem Donnerschlag und zwei Sparkulars, die vier Meter hohe Funken sprühten, sprangen plötzlich Katrin M, Dr. B und Alicia alias A auf die Bühne, die vor dem Altar aufgebaut war. Tosender Applaus brandete auf, und der unangenehme Zwischenfall mit dem Feuilletonisten war spätestens jetzt vergessen. Die vier genialen Köpfe des Literaturhauses Augsburg nahmen nun Platz und begannen Ausschnitte aus den Romanen vorzulesen, die alles verändern. Es waren arkane, ja heilige Texte, die sie bereitwillig mit ihrem Publikum teilten. Ich war völlig überwältigt von der sorgfältig kuratierten Show, der Pyrotechnik und den Soundeffekten. Jeder einzelne Roman, aus dem die vier so packend vorlasen, schrieb ich mir in mein kleines rosa Notizbüchlein, das ich immer in meiner Sakkotasche mitführte. Ich fühlte der Sonne verjüngende Flut. Zu Balsam und Äther verwandelt mein Blut. Ich war frei.
Nach einer Pause zog plötzlich wieder Nebel auf, solange bis man die eigene Hand nicht mehr vor Augen sah. Aus den riesigen Boxen drang nun zunächst leise und dann immer lauter der Song Thunderstruck von ACDC, solange, bis eine Gestalt, in einen langen Mantel gehüllt, auf der Kanzel zu sehen war. Gebannt starrten alle hinauf, während es aus den Boxen „Yeah it’s alright. We’re doing fine, fine, fine!” schallte. Langsam wurde die Musik leiser, und eine männliche Stimme flüsterte ins Mikrofon: „Das Leben war voller Sorgen, aber auch nicht wirklich. Es war eine Zeit, in der viele Dinge schnell erworben und dann wieder vergessen wurden. Es war ein großes, ruhiges Zimmer in einem kleinen Haus am Wasser, in der Hafenstadt Stromness, im frühen Herbst.“ Ich versuchte, zu sehen, wer der Vorleser war, aber er hatte eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Die Stimme fuhr fort. „Ein silbergrauer Laptop stand auf dem hell gebeizten Holztisch. In der Ecke des Raumes, neben dem über den kleinen Hafen hinaussehenden Fenster im Haus in Stromness, lag Paul auf einem zerschlissenen Sofa, das mit Segeltuch bezogen war, und schlief.“ Wie in Trance lauschte ich dem Rest der Geschichte, bis die Stimme immer leiser wurde, um ganz in Schweigen überzugehen. Tosender Applaus setzte ein, und ein mit den Füßen trampelndes und johlendes Publikum rissen mich aus meinem Zustand. War das der berühmte Autor selbst oder handelte es sich wieder um einen der vielen Tricks dieser Literaturhaus-Leute? Während ich noch grübelte, wurde ich von den Menschenmassen aus der Kathedrale hinausgeschoben. Draußen vor dem Gebäude, das von außen gar nicht sakral aussah, schüttelte ich mich. Es mussten Stunden vergangen sein. Um mich herum war es still. Wo waren all die Menschen, die zu Tausenden die Kirche füllten, nur hin? War all das nur ein Traum? Ich rückte meinen Anzug zurecht und zog das grüne Notizbüchlein aus der Sakkotasche. Alle Seiten waren weiß! War ich dem Sinn begegnet? Und Uriel? Es hatte geregnet, die Straße glänzte im Licht der Laternen. Als ich, benommen von den Ereignissen, auf die Schaetzlerstraße hinaustrat, klickte es metallisch unter meinem linken Stiefel. Ich schloss die Augen. Ich war an diesem Ort.
