Krieg ist kein Fußballspiel - 

Mithu Sanyal in Augsburg

Zeitgenössischer Einakter

Szene 1

Wir befinden uns in der Vogelperspektive über dem City Club in Augsburg, Süddeutschland. Vor dem Club steht eine weibliche Person. Die Kamera zoomt von oben heran, und es stellt sich heraus, dass es Dr. D. ist, die telefoniert. Im Hintergrund sitzen junge Leute, die man dem linken Spektrum zuordnen könnte, auf einer Bierbank. Vielleicht handelt es sich aber auch um Künstler*innen oder Figuren des Nachtlebens? Es wird still geraucht. Dr. D. spricht aufgeregt, mit der rechten Hand über dem Kopf gestikulierend, ins Telefon. Es ist sehr heiß. Alle schwitzen. 

Dr. D: Hi Mithu, wo bist Du denn gerade?

Mithu S: Bin gerade in Düsseldorf losgefahren, sollte also in ca. zwei Stunden in Augsburg sein.

Dr. D: Das ist ja ganz reizend! 

Mithu S: Ich habe etwas Angst vor dem Publikum in Augsburg, denn man sagt sich im Literaturbetrieb, dass es sehr streng sei…

Dr. D: Hm, ja, wir hatten einige, sagen wir mal, “Zwischenfälle”. Bei einer Veranstaltung mit dem Möbelmagnaten Rafael H. aus Berlin kam es tragischerweise zu einem heftigen verbalen Schlagabtausch zwischen dem Autor und Teilen des Publikums. Wir mussten den Saal räumen lassen.

Mithu S: Ja, sowas in der Art habe ich gehört. Meine Themen sind natürlich nicht so kontrovers wie die von Rafael H. 

Dr. D: Wenn einer was Kritisches sagt, drehen wir - wie immer - einfach das Mikrofon ab und schmeißen alle raus. Dieses Sicherheitskonzept hat sich über all die Jahrzehnte bewährt.

Mithu S: Das freut mich wirklich sehr.

Szene 2

Zwei Stunden, nachdem Dr. D. das Telefon umständlich aufgehängt hat, ist vor dem City Club ohrenbetäubender Lärm zu hören. Wie zu erwarten, ist es Mithu Sanyal, die ihren Ruf-Porsche laut aufheulen lässt. Als das hauseigene Valet-Girl aus dem Club gerannt kommt, um das Auto in Empfang zu nehmen und in der Gästetiefgarage des City Club zu parken, steigen immer noch kleine Rauchsäulen von den Heckreifen auf. Gut gelaunt klettert die berühmte Schriftstellerin Mithu Sanyal aus ihrem 800-PS-Auto. Im Hintergrund nähern sich Katrin M. und Dr. B. der Szene, die beide seltsam mechanisch ihre alten Fahrräder schieben.

Dr. B: Mithu, wie wunderbar! Endlich bist Du hier! Die Fahrt muss die Hölle gewesen sein. Du hast beinahe ZWEI Stunden gebraucht!

Mithu S: Oh Herr, zwei volle Stunden! Davon stand ich ungefähr 53 Minuten auf der Ackermannstraße im Stau…

Katrin M., Dr. B., Mithu S. und Dr. D. teilen sich vor dem Club stehend eine Vogue-Zigarette.

Katrin M: Ich lebe ja bekanntlich in der schönen Schweiz. Als ich heute früh in Winterthur losgefahren bin, war die Schweiz allerdings vollkommen leergefegt. Alle Schweizer müssen plötzlich verschwunden sein, denn ich habe nur acht Stunden gebraucht. 

Dr. B. kratzt sich nachdenklich am Kopf, etwas verwirrt ihn, aber sofort setzt er ein gewinnendes Lächeln auf. 


Dr. B: Lasst uns nun alle hineingehen, bevor es losgeht, und etwas essen. Wie es der Zufall will, habe ich bereits eine Kleinigkeit mit dem Chefkoch des vielfach ausgezeichneten thailändischen Restaurants
Yaya’s vorbereitet.

Szene 3

Alle gehen in den City Club. Nach einem - sagen wir mal ausgiebigen, vielleicht sogar exzessiven - Mahl, das soweit ging, dass Mithu S. zwei Minuten vor ihrem Auftritt geweckt werden musste, da sie über ihrem alkoholfreien Weißbier eingenickt war, erklärt der Clubbesitzer, Julian R., beim Treppenaufstieg, dass parallel, auf derselben Bühne, eine Vorstellung des bezaubernden Theter-Ensembles stattfinden werde. Man solle sich aber davon am besten gar nicht irritieren lassen, denn schließlich könne man sich die Bühne ja teilen. Dr. B. kratzt sich erneut am Kopf. Vermutlich denkt er, dass wohl alles seine Richtigkeit haben müsse. Oben angekommen, betreten Mithu Sanyal, die mithilfe eines Getränks, das man in Augsburg Spezi nennt, wieder zu frischer Energie gekommen war, Dr. D., Katrin M. und Dr. B. die Bühne. Einen Teil der Bühne bespielt das Theter-Ensemble mit dem Stück The Importance of Being Earnest. Der Saal ist mit vierhundertdreiundneunzig Leuten dreiviertel voll. Ca. dreihundert Besucher tragen T-Shirts mit dem Gesicht von Mithu S., die auf dem Foto eine Oscar Valladares Maduro Toro raucht. 

Dr. D: Nun, da die Zeit weit fortgeschritten ist, lassen Sie uns anfangen, liebes Publikum! Es freut mich sehr, Sie alle in Augsburg begrüßen zu dürfen, vor allem diejenigen, die aus den nördlichen Provinzen extra angereist sind. Mithu, wir freuen uns wahnsinnig, dass Du zu uns gefunden hast! Sag mal, Du riechst heute so gut. Was ist das denn? Dein Parfüm macht mich ganz kirre!

Mithu S: Vielen Dank für die Einladung in die Außenstelle des Literaturhauses Augsburg, der wohl bedeutendsten Literaturinstitution Deutschlands. Es ist mir eine große Ehre. Virtuell hatten wir ja im Jahr 2022 im Rahmen des ersten Deutschen Popliteraturpreises bereits das Vergnügen, den ich wirklich sehr gerne gewonnen hätte! Sie schaut Dr. D. sichtlich gekränkt an. Das ist eine sehr unangenehme Frage, die ich nichtsdestotrotz beantworten werde. Das Parfum, von dem Du sprachst, ist eine Mischung aus drei Düften, die ich neulich von der Pariser Luxusmarke Hermes zugeschickt bekommen habe: Epice Marine, Myrrhe Eglantine und Poivre Samarcande. Wenn man, wie ich, eine berühmte Schriftstellerin ist, bekommt man Parfums, Mode, Autos und sogar Häuser geschenkt. 

Dr. D: Achso. Ich will auch Schriftstellerin und sagenhaft reich werden! Es ist wirklich schwierig, sich zu konzentrieren…

Mithu S: Lassen Sie uns bitte!! anfangen, wir haben viel vor! Es geht schließlich um beinahe alles. Wir wollen heute im Rahmen der Feierlichkeiten zum 375. Jubiläum des Augsburger Religionsfriedens, den wir hier zusammen feiern, darüber debattieren, ob Literatur, oder breiter gesprochen, ob Kunst, Frieden stiften kann oder nicht. Ich sage ja!

Dr. D. ist noch immer von der aphrodisierenden Wirkung des betörenden Riechwassers benommen: Achso, ja, richtig. Ist das nicht etwas idealistisch, Mithu?

Mithu S: Ganz und gar nicht, es gibt zahllose Beispiele. Denk nur mal an den Roman Im Westen nichts Neues! 

Dr. B: Ja, aber sind das nicht Einzelbeispiele? Bedienen wir mit Büchern und Zeitungsartikeln, in denen wir steile Thesen vertreten, nicht eigentlich immer nur unsere eigene Bubble?

Mithu S: Nein. Also, vielleicht ein bisschen, aber Bücher und vor allem Medien haben einen großen Einfluss darauf, wie wir über unsere Welt nachdenken. Wie sprechen wir über Krieg? Man hat den Eindruck, es gibt die moralisch verwerfliche und die richtige Seite, nichts dazwischen. Aber alles ist natürlich viel komplizierter. Krieg ist kein Fußballspiel. 

Dr. B: Ok, ja, da hast Du wohl recht.

Dr. D:  Wer wärst Du eigentlich lieber: Päpstin oder die Präsidentin der Vereinigten Staaten?

Mithu S: Das ist eine sehr komische Frage. In letzter Zeit bin ich etwas darüber schockiert, dass ich mich dabei erwische, immer und immer wieder den Papst zu retweeten. Was mir viel wichtiger erscheint, wenn wir über Geschehnisse in der Welt ausgewogen und reflektiert berichten wollen, ist die Forderung nach einer journalistischen Minimalethik, die voraussetzt, dass sich Journalisten intensiv mit den Themen befassen, die sie besprechen. Man muss aber auch feststellen, dass die deutsche Presselandschaft im Vergleich zur beispielsweise englischen oder italienischen viel besser aufgestellt ist. Heute soll es aber vor allem darum gehen, was der Journalismus von der Literatur lernen kann.

Katrin M: Mithu, wie würdest Du den wesentlichen Unterschied zwischen diesen beiden Wirklichkeitsbeschreibungen definieren?

Mithu S: Die Literatur darf grässliche und amoralische Charaktere abbilden. Sie kann außerdem Ambiguitäten leichter aushalten. Vor allem nach Corona muss man feststellen, dass der Korridor des Sagbaren enger wurde. Man kann das heute beispielsweise am öffentlichen Diskurs zum Gaza-Israel-Konflikt beobachten. 

Ein Raunen geht durch die Menge. Ein Jurist im Staatsdienst startet mit Mithu S. eine Diskussion über Antisemitismus, und über die Frage, ob dieser im- oder exportiert wurde. Das Publikum staunt nicht schlecht, auf welch hohem Niveau an diesem Abend im City Club miteinander diskutiert wird. Andere Zuschauer*innen mischen sich ein, es entsteht eine Atmosphäre höchster intellektueller Spannung. Alles ist plötzlich erlaubt, denn das Literaturhaus ist ein Ort, an dem Streit, Liebe und Kreativität aufeinanderprallen. Es geht noch eine ganze Weile so weiter, obwohl es sehr heiß ist und alle schwitzen. Es ist aber nicht nur die gute Stimmung, wie bei jeder Veranstaltung des Literaturhauses Augsburg, die die Menschen elektrisiert, nein, es sind auch die wunderschönen Buntglasfenster eines lokalen Künstlers im City Club, die eine quasi-sakrale Stimmung erzeugen. Nach circa sieben Stunden Vorstellung mit zahllosen, wahnwitzig unterhaltsamen Elementen sieht man Mithu S. und Katrin M. wieder vor dem Club stehen. Sie rauchen Pfeife. Das Publikum ist inzwischen mit einigen Buchtipps und intellektuell befriedigt nach Hause gegangen.

Epilog

Mithu S: Na, das war ja der helle Wahnsinn hier im Literaturhaus Augsburg, äh, Entschuldigung, ich meine natürlich im City Club!

Katrin M. beschwichtigend: Keine Sorge, das ist ja beinahe dasselbe.

Mithu S: Es hat mir NOCH besser gefallen als im Dezember! Und es war FAST so gut wie beim Deutschen Popliteraturpreis 2022, was ja eigentlich unmöglich ist!

Katrin M: Das ist ja klar, Du warst schließlich zu Gast im Literaturhaus.

Alle ab.

Nachdem der Geruch verbrannten Gummis verflogen ist, und Mithu S. ein letztes Mal aus ihrem Boliden allen Fans zugewinkt hat, senkt sich die Dämmerung ohne Gnade wieder einmal über die Stadt. Gott sei Dank beginnen die Glühwürmchen in der Luft ihren Paarungstanz aufzuführen. Für einen kurzen Moment sieht es so aus, als wäre Dr. B. auf einem klapprigen Fahrrad am City Club vorbeigeflogen. Aber das muss eine optische Täuschung gewesen sein.

Mithu Sanyals Leseempfehlungen (zumindest die, an die wir uns erinnern):

Robin Wall Kimmerer: Geflochtenes Süßgras mit einem Vorwort von Mithu Sanyal

Peter Wohlleben: Alle Bücher (so hat unsere Redaktion das interpretiert.)

Aladin El-Mafaalani, Sebastian Kurtenbach, Klaus Peter Strohmeier: Kinder. Minderheit ohne Schutz

Bell Hooks: Alles über Liebe

Jan van Aken: Worte statt Waffen

Emily Brontë: Sturmhöhe

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