» Die Selbstauflösung passiert ja nicht mit mir, sondern ich wähle sie selbst, und gehe auf den Gipfel, wo es immer heller und die Luft immer dünner wird, und ich löse mich selber auf.«

Rafael Horzon im Interview

Ein Gespräch über Selbstauflösung, die Neue Wirklichkeit und brennende Ziegen

Frühmorgens findet sich Dr. B. zum Interview vor Rafael Horzons Laden in der Torstraße 106 ein. Der Maître kommt fröhlich pfeifend mit Moebel-Horzon-T-Shirts und der brandneuen Übersetzung ins Englische des Bestsellers „Das weisse Buch“ unter dem Arm die Straße herunter geschlendert. Er übergibt Dr. B. feierlich sieben Exemplare, während er umständlich seinen Laden aufsperrt. Gerade in dem Moment, als Dr. B. seine erste Frage stellen will, klingelt das Ententelefon, und Rafael Horzon nimmt eine gigantische Bestellung entgegen. Er muss Multimilliardär sein, mutmaßt Dr. B. neidisch. »Oh entschuldigen Sie bitte vielmals, Herr Dr. Professor B., jetzt bin ich bereit für das wohl bedeutendste Interview dieses Jahrzehnts.«

Endlose Kundengespräche

Rafael Horzon in endlosen Kundengesprächen

ZUM WARMWERDEN …

Dr. B: Warum hast Du »Das weisse Buch« geschrieben?

R: Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich sehr glücklich bin und ein sehr schönes Leben lebe, und ich wollte den anderen Menschen erklären, wie es dazu kam, und wie man es macht, damit sie auch glücklich werden können.

Dr. B: Gibt es Unterschiede zwischen dem Autor und dem Helden Deines Buches?

R: Nein. Ich habe einfach alles genauso aufgeschrieben, wie ich es erlebt habe.

Äußerst betrübt

NOTWENDIGKEITEN

Dr. B: Die meisten Sterblichen, die noch nicht in der Neuen Wirklichkeit angekommen sind, sind im Leben Notwendigkeiten und Strapazen ausgesetzt. Geldsorgen, Erschöpfung nach der Verrichtung stumpfsinniger Arbeit, das Baby schreit. Lösen sich diese Probleme in der Neuen Wirklichkeit auf? 

R: Ja, also vielleicht müsste man kurz erklären: In meinem Buch beschreibe ich, wie man über den sogenannten Dritten Weg in die Neue Wirklichkeit gelangt. Ich habe selbst lange darüber nachgedacht, was ich damit eigentlich gemeint habe. Ich vermute, dass die Neue Wirklichkeit sich nicht von der Wirklichkeit unterscheidet, in der wir (wahrscheinlich) alle leben. Sie entsteht vielleicht einfach nur durch eine bestimmte Art der Wahrnehmung. Am einfachsten geht das, indem man bestimmte Facetten der Wirklichkeit einfach ausblendet – zum Beispiel die störenden Facetten – und sich auf die schönen Facetten konzentriert. Und dann kann man zusätzlich beginnen, selber schöne Facetten hervorzubringen. Und wenn alle das tun, dann wird diese Neue Wirklichkeit plötzlich sehr mächtig, und niemand kann sich ihr entziehen.

Dr. B: Hm. Ja. Er fasst sich an die Brille.

LEIDEN UND TOD

Dr. B: Können wir über das Leiden sprechen? Deinem Buch stellst Du ein Zitat aus Nietzsches „Die fröhliche Wissenschaft“ voran. Es lautet „Man träumt gar nicht oder interessant. Man muss lernen, ebenso zu wachen: gar nicht oder interessant.“ Ziemlich am Anfang sitzt der Musterstudent in Jacques Derridas Vorlesung und hört Unglaubliches: Das Leben funktioniert so, wie ich es will. Es gibt eine gewisse Logik, dennoch scheint alles möglich zu sein. Andersherum, es gibt bestimmte kulturelle Konventionen, und die gilt es umzuwerten?

R: Ja genau, Konventionen sind ja grundsätzlich etwas Langweiliges, weil es ja impliziert, dass alle derselben Meinung sind. Wenn das so ist, gibt es ja zum Beispiel keinen Grund mehr, sich zu unterhalten oder Bücher zu schreiben, weil alle immer schon alles wissen, was der andere sagen will oder was im Buch steht. Dann gibt es ja keine geistige Weiterentwicklung mehr, dann können sich auch alle kollektiv von der Klippe stürzen, weil nichts Neues mehr zu erwarten ist.

Konventionen haben die Menschen erfunden, um sich ihrer Gemeinsamkeiten zu versichern und um sich gut zu fühlen. Aber wie gesagt: Es wird dann auch schnell langweilig. Und dann muss man eben dagegen anarbeiten. 

In meinem Fall habe ich mich zum Beispiel daran gestört, dass wirklich alle darin übereinstimmen, dass es schön und erstrebenswert ist, Künstler zu sein oder Kunst herzustellen. Mein Programm lautet dagegen, dass es schön und erstrebenswert ist, das NICHT zu sein und das NICHT zu tun, sondern interessante Dinge zu tun, die NICHT Kunst sind. Also interessant zu wachen, wie Nietzsche sagt. Und dann wird automatisch das Leben auch interessant. Für einen selbst, und für die anderen Menschen. 

Mittelmäßig betrübt

Dr. B: All das klingt ein wenig nach Pippi Langstrumpf. Wie lässt sich nun das Leiden, das alle im Leben erdulden müssen, wie lassen sich die zufälligen Grausamkeiten und der Tod mit dieser Poetik vereinbaren? Hat das Leiden einen Platz in der Neuen Wirklichkeit oder muss es mit einer „Zuckerschicht“ überzogen, d. h. verklärt oder total ignoriert werden?

R: Nein, das Leiden muss nicht ignoriert werden. Es ist sogar als Hintergrund nötig, damit sich das Glück davon abheben kann und noch schöner zur Geltung kommen kann. So wie Blumen-Intarsien sich vom schwarzen Hintergrund abheben. Dafür brauchen wir es. Es ist ein dunkles Brummen, aber darüber singen wir ein schönes Lied.

Dr. B: Könnte man sagen, dass das Ende des Buches dem Tod irgendwie „gerecht“ wird? 

R: Die Menschen sind der Meinung, dass am Ende immer der Tod stehen muss. Aber das ist nicht unausweichlich. Unausweichlich ist das nur für die Menschen, die tatsächlich schon tot sind. Und natürlich ist meine Selbstauflösung am Ende des Buches ja ein Weg, gegen den Tod anzugehen. Die Selbstauflösung passiert ja nicht mit mir, sondern ich wähle sie selbst, und gehe auf den Gipfel, wo es immer heller und die Luft immer dünner wird, und ich löse mich selber auf. Ich werde nicht aufgelöst. Das ist eine ganz aktive Überwindung des Todes. Der ultimative Akt der Befreiung. Aber auch ein Scherz, denn ich bin ja nun wieder hier. Aber ob ich wirklich einmal sterben werde, das weiss ich nicht. Ich gehe davon aus, dass das nicht passieren wird.

DIE NEUE WIRKLICHKEIT 

Dr. B: Könntest Du unseren Literaturhaus-Augsburg- und Rafael-Horzon-Fans bitte mal den Dritten Weg genau auseinandersetzen. 

R: Also erst einmal ist der Dritte Weg ganz kurz gesagt die dritte Möglichkeit, wo man eigentlich davon überzeugt ist, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt. Das ist ja die grundsätzliche Konstruktion der klassischen Tragödie: Dass der Protagonist irgendwann an einer Stelle anlangt, wo er nur noch zwei Handlungsmöglichkeiten hat. Und BEIDE führen in die Katastrophe. Und er weiss es. Und darin liegt die Tragik der Tragödie, dass er nur noch die Wahl hat zwischen zwei Katastrophen. Und meine Behauptung ist, dass es IMMER auch noch einen Dritten Weg gibt. Es ist sogar viel mehr als eine Behauptung. Es ist eine Benachrichtigung: Die Welt ist kein Duales System!

Dr. B: Der Dritte Weg scheint ein Umweg zu sein. Inwiefern? 

R: Der Dritte Weg ist natürlich meistens ein Weg, den noch nicht viele gegangen sind. Gradlinig verläuft so ein Weg natürlich nicht. Also kann es etwas dauern, bis man ankommt. Aber wenn man als Alternative zwei Autobahnen hat, die ins Verderben führen, dann ist man über den kurvigen Dritten Weg doch froh!

Dr. B: »Anegnon, egnon, kategnon« // Ich las, ich verstand und ich verwarf. »Sapientia non est in litteris sed in rebus.« // Die Weisheit ist nicht in Büchern zu finden, sondern in den Dingen. Können wir überhaupt über den Dritten Weg sprechen oder geht das per definitionem gar nicht, da die Weisheit nicht in Sprache übersetzbar ist, sondern in den Dingen selbst liegt? Sind die Dinge alles, was ist, und damit ist alles gesagt? Also liegt im Tun die Weisheit?

R: Also wenn man im Bild des Weges bleibt, dann ist der Dritte Weg natürlich noch nicht sehr genau beschrieben und auf keiner Karte zu finden und in keinem Buch. Das wollte ich mit diesem schönen lateinischen Satz sagen. Und natürlich bedeutet dieser Satz auch, dass es wichtiger ist, selbst in die Welt zu gehen, statt sich in Bücher zu vergraben. Zumindest wenn man einen neuen Weg finden möchte. Wenn man die beschriebenen Wege studieren möchte, dann kann man das natürlich tun, in den Büchern. Aber den Dritten Weg findet man dort nicht. Nur in einem einzigen Buch: Im Weissen Buch.

Dr. B: Ist die Neue Wirklichkeit LebensKUNST wie bei den Romantikern? Sind ihre Gegenstände (Gemälde, Bücher etc.) beliebig?

R: Also Kunst im heute gebräuchlichen Sinn interessiert mich natürlich nicht, das ist im Weissen Buch ja sicherlich deutlich genug gesagt worden. Aber wenn wir auf den Ursprung des Wortes zurückgehen und das Wort Kunst ganz generell als Fähigkeit oder als Können verstehen, dann wäre vielleicht auch das unschöne Wort Lebenskunst (noch schlimmer ist ja nur das Wort Lebenskünstler, das ist ja ehrlich gesagt nur eine höfliche Bezeichnung eines Versagers) interessant. Aber das ist doch viel zu verwirrend! Der Dritte Weg führt natürlich nicht über die Kunst in die Neue Wirklichkeit! Die neue Wirklichkeit ist eine Alternative zur Kunst! 

Dr. B: Signora Sarasate firmiert, sobald sie ihren Wohnwagen verlässt, als französischer Verteidigungsminister. Es gibt einige andere Beispiele von Identitätsauflösung im Buch. Inwiefern hängt der Dritte Weg mit dem Verlust oder der Aufgabe von Identität zusammen?

R: Identitätsaufgabe könnte dabei eine Rolle spielen. Aber man muss Identitätsaufgabe ja nicht als Verlust sehen, sondern als Gewinn, denn mit der Aufgabe einer Identität geht auch der Gewinn einer neuen Identität einher, und das ist ja etwas Gutes. Gewinn ist ja etwas Gutes.

Rafael Horzon sinnierend

DAS ENDE ODER DIE GRENZE 

Dr. B: Am Ende lösen sich die individuellen Stimmen in einem diffusen Rauschen auf. Hier entdeckt man Novalis- und Hölderlin-Referenzen. Der Protagonist, der vielleicht gar nicht mehr Rafael Horzon ist, wird eins mit der Welt? Löst sich auf in einer Vielzahl von Stimmen? Kannst Du uns etwas zum Ende des Buches sagen? 

R: Naja, es sind ja schon fast keine Novalis- oder Hölderlin-Referenzen mehr, ich habe ja regelrecht abgeschrieben. Und ich gehe dann ja auch noch zum Bademeister mit dem buschigen Schnurrbart und frage ihn, ob ich alles richtig gemacht habe. Und ob es interessant war. Und er sagt dann: „Ja, interessant!“. Also, alles richtig gemacht, bravo! Heutzutage würde man in so einem Fall sagen: „I can die now!“

Das Ende des Buches handelt dann ja auch von meiner Auflösung, von meinem Ende. Denn so stelle ich mir das Ende eines guten Buches vor: Dass der Held, also ich, einen grausamen, aber auch schönen Tod stirbt. Da werden viele Leser natürlich Tränen vergossen haben. Ich meine das übrigens ganz unironisch, denn ich selber habe bis heute jedes Mal weinen müssen bei den letzten Sätzen des Buches. 

Aber wie gesagt: Ich lebe ja noch. Und ich habe nicht vor, zu sterben.

Dr. B: Beschreibst Du am Ende das, was Kracht und Horzon im Buch erleben, wenn sie die Grenze überschreiten, die durch ein Volleyballnetz markiert ist, nun von innen heraus? Fühlt sich so das Verlassen des Normalen an, bevor man die Neue Wirklichkeit zu seiner Wirklichkeit macht?

R: Ja. Beziehungsweise: nein! Ich hatte das ja schon am Anfang erklärt: Die Neue Wirklichkeit ist ja zuerst dieselbe Wirklichkeit, in der auch alle anderen leben. Also die Welt hinter dem Volleyballnetz ist im Prinzip dieselbe wie die vor dem Volleyballnetz. Und trotzdem wird ja das Volleyballnetz von einem Soldaten mit Maschinengewehr bewacht. Er möchte uns erschiessen, weil wir über das Netz gehen wollen. An dieser Stelle im Buch sind Kracht und Horzon ja sehr ängstlich. Sie laufen schreiend vor Angst davon. Aber es ist ja nur eine Momentaufnahme. Das ganze Buch handelt ja davon, über die Grenze zu gehen. Und am Ende gelingt es dann ja auch. 

Horzon präsentiert die Sternbild-Negative

TRAUM & ERINNERUNG

Dr. B: In »What Art Is« (2013) formuliert der amerikanische Kunsttheoretiker und Philosoph Arthur Danto ein für uns interessantes Kriterium für die Kunst, das mich ein bisschen an Deinen Helden, Rafael Horzon, erinnert. Kunst solle beschaffen sein wie »wakeful dreams«. Inwiefern trifft das auf den Helden des Buches zu? 

R: Also, weil es ja keine objektiven Kriterien dafür gibt, was Kunst ist und was nicht, gibt es natürlich unendlich viele subjektive Definitionen, was Kunst ist. Unendlich viele Formulierungen von Kriterien, was nach Meinung der unendlich vielen Menschen, die diese Definitionen formulieren, Kunst ist. Diese alle aufzuzählen, ist eine Fleissarbeit, an der sich alle Künstler der Welt abarbeiten. Ich aber nicht. Ich beteilige mich nicht daran. Ich möchte etwas anderes machen.

Dr. B: Jeder träumt ja individuell und so, dass sich der Traum mit den Werkzeugen des Bewusstseins kaum übersetzen lässt, und doch könnte man sich vielleicht darauf verständigen, dass Du in Deinem speziellen Dasein diesen Teil der Existenz erinnerst, der üblicherweise keinen Platz im normalen Leben hat. Könnte man Dich oder auch Dein Buch als laufende Erinnerungspartikel aus einem Traum fassen?

R: Ich habe mich natürlich immer sehr für Träume und Traumdeutung interessiert. Aber leider kann ich mich meistens an meine Träume nicht mehr erinnern. Nur wenn ich mich sehr anstrenge. Ich habe ja eine Zeitlang ein Traumtagebuch geführt und alles aufgeschrieben, und das war sehr ernüchternd, weil ich jede Nacht denselben Traum geträumt habe.

Aber ich kann sagen, dass ich den Zwischenzustand zwischen Schlaf und Wachen sehr produktiv finde. Ich habe all meine Geschäftsideen in diesem Zwischenzustand entwickelt. 

KUNST UND WIEDERHOLUNG 

Dr. B: Seit Duchamps Fountain (1917) ist Kunst für Dich eine endlose Wiederholung derselben alten Idee. Man könnte ja immer wieder Variationen der einen alten Idee neu arrangieren. Warum ist Kunst obsolet?

R: Manche Menschen finden es halt schön, das zu tun, was ihre Vorfahren auch schon immer getan haben, oder das zu tun, was ihre Mitmenschen auch tun. Ich gehöre jedenfalls nicht dazu. Ich möchte etwas anderes tun.

Dr. B: Arthur Danto liefert einen kurzen Abriss der Denkgeschichte der Kunst: “In our narrative, at first only mimesis [imitation] was art, then several things were art but each tried to extinguish its competitors, and then, finally, it became apparent that there were no stylistic or philosophical constraints. There is no special way works of art have to be. And that is the present and, I should say, the final moment in the master narrative. It is the end of the story.“ Wäre die Neue Wirklichkeit nun als Möglichkeit zu verstehen, Danto weiterzudenken?

R: Also dazu muss man natürlich sagen, dass es immer sehr traurig ist, wenn Menschen „Das Ende“ von irgendetwas proklamieren, denn damit zeigen sie ja nur an, dass sie den Fortgang der Dinge bis hierhin überschaut haben, aber nicht in der Lage sind, über diesen aktuellen Zustand hinauszudenken. 

Ich muss mir darüber keine Gedanken machen, wie es in der Kunst oder im Theater oder in der Musik weitergehen wird, denn ich habe mich ja von alldem verabschiedet. Ich habe ja, wie es mir die Wahrsagerin empfohlen hat, ein ganz neues Ziel gesucht, damit ich da dann ganz gemütlich hinspazieren kann, ohne dass ich versuchen müsste, irgendjemanden zu überholen.

Aber natürlich sind die Menschen, die dabeibleiben, bei der Kunst und bei der Literatur und bei der Musik, sehr erfindungsreich, und egal, ob irgendjemand ein Ende proklamiert, wird es auf all diesen Gebieten immer weiter gehen.

Aber ich habe mit alldem, wie gesagt, nichts zu tun.

»Ja, gerne liefere ich ein GRATIS-Sternbild nach Augsburg ins Literaturhaus!«

IRONIE UND HOMMAGE 

Dr. B: Die Tochter des Direktors der Universität, die der Held sieben Stunden lang liebt, sieben Mal, heißt Sophia. Weisheit. Der Held schläft mit der Weisheit. Er f**** sie. Ein weiteres Beispiel: Wir sprachen zuvor vom Identitätswirrwarr im Buch. „Ich ist ein Anderer.“ Der französische Dichter Arthur Rimbaud strebte wie die deutschen Romantiker nach der Vereinigung von Kunst und Leben. Dieser Satz wird in den 1950er Jahren von Jacques Lacan, dem berühmten Freud-Nachfolger, innerhalb der psychoanalytischen Lehre radikalisiert. Du löst das Dilemma des gespaltenen Subjekts ironisch in dem Werbeslogan „Ich bin zwei Öltanks“ auf. 

R: Ich habe ja immer alles nur genauso aufgeschrieben, wie ich es erlebt habe, getreulich wie ein Buchhalter. Das habe ich mir doch alles nicht ausgedacht. 

Und dieser Spruch mit den Öltanks, der muss mir in diesem Zusammenhang irgendwie eingefallen sein. Der Werbetexter, der diesen Slogan gedichtet hat, wollte damit wahrscheinlich sagen, dass man mehr als nur eine Persönlichkeit hat. Das sehe ich übrigens genauso. Und genauso gibt es natürlich mehr als nur eine Wirklichkeit.

Rafael Horzon blickt zufrieden: Das Tagwerk ist vollbracht

Dr. B: Wenn Ironie angebracht ist, warum verhandelst Du gerade die berühmten Fragen der Avantgarden? 

R: War mir nicht bewusst, dass ich das tue. 

Dr. B: Man könnte Dein Verfahren als Camp oder Hommage bezeichnen. Die alten Fragen, existenzielle Gefühle, werden noch immer, allerdings in Form des Zitats, verhandelt, irgendwo zwischen Ernst und Ironie, zwischen Hommage und neutraler Referenz. Auf diese Weise kann man sie sich bewahren, denn sie sind ja wichtig für die eigene Existenz. Wir alle leben, lieben und leiden wie alle Generationen zuvor auch. Und klar, man kann heute nicht mehr völlig ungebrochen wie in den 50ern leben, auch wenn man Mode, Möbel und Lifestyle gut findet. »Wer bin ich?«, »Warum leiden wir?«, »Warum sind wir hier?«, »Was ist der Tod?«, alles Fragen, die immer gültig sind. Man kann so über diese Fragen weiterhin schreiben, ohne sich der Lächerlichkeit preiszugeben. Ist Pathos noch möglich in Form von Ironie oder Hommage? Es wäre ja noch da, wenn auch nicht mehr in Form von naiver Unmittelbarkeit? 

R: Ich habe keine Ahnung …

DER SCHRIFTSTELLER ZEICHNET DIE SCHLEIFE IN DEN SCHILLERNDSTEN FARBEN

Dr. B: Das Bild im Bild (Mise en abyme) ist eine beliebte Figur, derer sich Du und auch andere gerne bedienen. Es gibt kein Außen, keine Erkenntnis, weder in der Kunst noch im Wissen, da wir die Wahrheit der Sprache nicht durch die Sprache hindurch aussprechen können. Im „Weissen Buch“ schreiben die Figuren Kracht und Horzon alles auf, was ihnen passiert. Dieses Unternehmen endet wieder am Anfang, wenn sie im Hotelzimmer beschließen, alles aufzuschreiben. Aus dieser Thematik habt Ihr, Du und Christian Kracht, ein Theaterstück gemacht, das Hubbard heißt. Kann man diese Schleife durch den Dritten Weg oder die Vereinigung von Kunst und Leben irgendwie verlassen oder verbleibt man auf immer in der Schleife und gestaltet diese einfach immer wieder neu, in den schönsten Farben? 

R: Damit könnte man ungefähr beschreiben, was Künstler tun: Die Schleife neu binden, oder eine neue Schleife machen, und sich darüber freuen, dass sie so hübsch geworden ist. Und das ist ja auch ganz legitim. Aber das ist ja nicht, was ich machen möchte: Ich möchte die Frage stellen, ob es nötig ist, überhaupt eine Schleife zu haben. Und die Antwort lautet: nein.

Rafael Horzon ist indifferent

ZUM LANGSAM RUNTERKOMMEN ...

Dr. B: Einige Leute behaupten, dass Hubbard nicht aufgeführt wurde, weil Ihr darauf bestanden hättet, dass brennende Ziegen die Bühne überquerten. Stimmt das?

R: Ja, das stimmt. Vielleicht ist Hubbard aber auch nur ein sehr einfach gestricktes Machwerk. Wir haben wirklich viel Spass beim Schreiben gehabt, aber es war dann wie bei den Büchern, die ich vor dem Weissen Buch geschrieben habe. Irgendwann merkt man, dass man da neben vielen guten Ideen auch viel Unsinn aufgeschrieben hat (Kracht ist daran übrigens unschuldig). Beim Weissen Buch ist das Gott sei Dank nicht so, da bin ich immer noch über jedes einzelne Wort sehr glücklich. Es ist wirklich ein sehr gutes Buch.

Dr. B: Ziehst Du den Dritten Weg immer und überall durch? Ich denke da an die Familie, Freunde etc.

R: Ich ziehe gar nichts durch. Der Dritte Weg zieht mich durch.

Dr. B: Wird es ein weiteres Buch oder neue Projekte geben, oder ist das gänzlich unnötig?

R: Nein, das ist wirklich komplett unnötig. Ich werde jetzt keine neuen Firmen mehr gründen und auch kein neues Buch schreiben.

Dr. B: Das ist doch gelogen! Ich habe Gerüchte gehört, dass wieder etwas kommen soll!

R: Ich bleibe dabei: Es wird kein neues Buch geben.

Dr. B: Wäre nicht das Verschwinden die einzig wahre Lösung nach dem sehr konsequent zu Ende gedachten Ende des „Weissen Buches“? Ich sehe die unendliche Fortsetzung des „Weissen Buches“ in Deinen Projekten, dem Möbeldesign, den Sternbildern, Klik & Stek usw., aber all diese Variationen von Lebenskunst (bitte streichen!) gehen nicht so weit wie das Ende Deines Buches. Wird es irgendwann ein entsprechend radikales Ende geben? 

R: Ja!

Im Jahr 2020 erschien „Das Neue Buch“ von Rafael Horzon im Suhrkamp Verlag. Das Gespräch führte Dr. B.

Quelle: Rafael Horzon

Quelle: Rafael Horzon

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Interview mit Frédéric Schwilden

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Sieben gefährliche Bücher