Sieben
gefährliche
Bücher.

Wir haben Euch eine Liste mit sieben brandgefährlichen Titeln zusammengestellt, die das Leben unserer Redaktionsmitglieder verändert haben. Sieben Bücher, riskant für den Kopf und für die Gefühlswelt, für die etablierte Ordnung, für alles, was unsere Gesellschaft für »normal« hält. Subversive literarische Explosionen, die den Blick auf die Welt verändern können. Bitte unbedingt Vorsicht beim Lesen!

1.
The Waves

Virginia Woolf

Gefahr:
Die Konturen Deines eigenen Ichs verwischen.

In The Waves erzählen sechs, eher sieben, vielleicht sogar acht verschiedene Stimmen, will man auch dem Meer oder dem „Ganzen“ zuhören. Sechs von ihnen sind Figuren, die ich durch Kindheit, Jugend und das Erwachsenenalter hindurch begleite; die Siebte höre ich einzig in den Gedanken und Worten der Anderen; die Achte ist das Meer, die Dynamik der Wellen, die vielen Stimmen der Natur, die alles durchspülen, aufwirbeln und in sich einschließen. Dann lese ich und lese ich, und plötzlich scheint es mir, als sei alles mit allem verbunden, als ewiger Zusammenhang der Gegebenheiten dieser Welt. Ich zerfließe mit den Wellen, den kleinen Details der Landschaft, und verschmelze mit dem Buch, das ich in den Händen halte, und der Tür, die ich öffne, um rauszugehen, denn die echten Freunde warten, doch raus komme ich erstmal nicht—dieses unheimliche Gefühl lebt noch eine ganze Weile in mir fort. 

2.
Verlangen nach Drachen
Verena Roßbacher

Gefahr:
Modifikation der Hirnstruktur.

Worum es in diesem Roman geht, kann ich nicht wirklich rekonstruieren. Ich habe dieses Buch wie eine Droge konsumiert. Sein Inhalt ist skurril, assoziativ, traumwandlerisch – schräge österreichische Gestalten und eine dschungelhafte Erzählung zogen mich in einen Rausch hinein, aus dem ich nur schwer wieder hinausfand (einmal, ich stand gerade auf einer Rolltreppe in einem Kaufhaus und sann einem "Verlangen nach Drachen"-getriggerten Gedanken nach, wusste ich: Wenn du hier weiterdenkst, kannst du verrückt werden). Nach der Lektüre hatten sich all meine Hirnwindungen leicht verschoben, waren umgestülpt oder irgendwie verheddert. Aber auf eine sehr schöne Art und Weise. Vom zeitgleichen Konsum bewusstseinsverändernder Psychopharmaka ist dringend abzuraten, man kann das Buch aber an ihrer statt einsetzen.

3.
Fup
Jim Dodge

Gefahr:
Du rasierst dich nicht mehr (nirgends) und kaufst dir eine Farm in Niedersachsen.

Ein Buch, das FDPlern Alpträume bereiten würde – würden sie es lesen. Tun sie aber natürlich nicht. Es ist voll von Typen, die eine f*ck-the-system-Mentalität haben. Aber nicht in so einem systemimmanenten Veränderungssinne. Die Figuren sind einfach mentale (oder reale) Aussteiger. Nicht nur der neoliberale Leser merkt schnell, welche Sprengkraft dieses Buch haben kann, in dem bürgerliche Werte mit Unsterblichkeit spendendem Alkohol herunter gespült werden und die Produktivität in Entenflügelschlägen gemessen wird.

4.
Faserland
Christian Kracht

Gefahr:
Du wirst zum Ästhetizisten.

Ein Buch, das ich niemals nur als »Zeugnis seiner Zeit« oder ähnlichen akademischen Bullshit gelesen habe, sondern identifikatorisch. Ja, ich habe mir eine Barbourwachsjacke gekauft. Nachts bin ich mit meinem Freund im Golf 3 Turbodiesel seiner Mutter quer durch Deutschland gefahren, habe Freundinnen besucht, Nächte durchtanzt, geraucht und viel getrunken. Vesper Martinis. Ich war ein Angeber. Bin ich heute noch. Ich war auf der Suche. Wonach? Nach Sinn, nach Schönheit, nach einer echten Begegnung, nach etwas, das mich berührt. Nach einem Zuhause und nach dem Ungewissen, dem Geheimnis der Welt. Nach Faserland weiß ich, dass es (nur) im spirituellen Potential der Literatur möglich sein wird. Schon bald.  

P.S. Diese Website habe ich gefunden. Allerdings habe ich es noch nicht gewagt, das Ende von Faserland zu erleben und die Reise zu buchen. Soll ich ein E-Mail schreiben?

http://faserland.ch

5.
Das Porträt
Nikolai Gogol

Gefahr:
Du gibst Deinen niedrigsten Instinkten nach.

Ein junger Künstler erwirbt zufällig ein Gemälde. Es zeigt einen Pfandleiher mit      einem seltsamen, teuflischen Blick. Der abgebildete Pfandleiher tauschte das Wertvollste, was die Menschen besaßen, gegen Geld ein und verwandelte deren Leben dadurch in einen Albtraum. Der Künstler wird vom fatalen Einfluss dieses Porträts ergriffen, das seinem neuen Besitzer auf mysteriöse Weise unermessliche Reichtümer bringt. Er wird immer berühmter, aber dabei vergeudet er sein Talent, indem er immer vulgärere und geschmacklosere Werke schafft. Bewusst und gleichzeitig unfähig, dem Einfluss der mystischen Figur des Kreditgebers zu widerstehen, verliert er allmählich den Verstand. Das Buch stürzt sich auf mich mit seiner mystischen Ästhetik und der schmerzhaften Atmosphäre von Sankt Petersburg. Wenn ich das Buch öffne, sehe ich den gefährlichen Blick des Pfandleihers und versuche mein Bestes, eine Begegnung mit ihm zu vermeiden. Werde ich zu einem Spielzeug des Teufels, der versucht, mich mit dem Begehrenswertesten zu verführen und dabei meine Seele als Gegenleistung verlangt?

6.
Lolita
Vladimir Nabokov

Gefahr:
Du erkennst, dass Dir die Moral im Wege steht.

Lolita ist die Beichte von Professor Humbert, der seine sexuelle Beziehung mit dem Mädchen Lolita gesteht. Der Roman schildert seine leidenschaftliche Besessenheit von Lolita, die er als romantisch und leidenschaftlich verstanden haben will, obwohl sie in Wahrheit auf sexuellem Missbrauch und Ausbeutung beruht. Dennoch gibt mir Nabokov nicht das Recht, die Figuren moralisch zu verurteilen. Trotz der vulgären, beinahe pornografischen, Handlung schafft es Nabokov, mir ein ästhetisches Lesevergnügen zu bereiten. Lolita berührt den menschlichen Instinkt, der mich trotz Entsetzen und Ekel anzieht und mich Lust und Befriedigung empfinden lässt. Sogar, wenn ich die Qualen und das Leiden der anderen vor Augen habe. Das Buch ist der Schlüssel, der mir die Tür zum amoralischen und gewissenlosen Ich öffnete und mich ästhetische Euphorie ohne Selbstkasteiung erleben ließ.

7.
Eine wie Alaska
John Green

Gefahr:
Du merkst, wie viele Risse Dein Ich erfahren hat und vermisst das Kind in dir.

Ich kann mich nur noch schemenhaft an Details der Handlung von John Greens Coming-of- Age-Roman erinnern. Allerdings ist das für mich schon groß, denn ich las das Buch vor beinahe fünfzehn Jahren. Wenn ich an Miles und seine Angebetete, die schöne, mutige und unwirkliche Alaska zurückdenke, fühle ich mich, als wäre ich dabei gewesen, im Internat, heimlich im Wald rauchend und philosophische Gespräche führend. Das ist kein Jugendbuch. Es ist einfach ein verdammt gutes Buch. Als meine Freundin Kelly wenige Jahre, nachdem ich das Buch gelesen hatte, viel zu jung starb, musste ich immer wieder an eine Stelle denken: „Maybe its like you said before, all of us being cracked open. Like each of us starts out as a watertight vessel. And then things happen – these people leave us, or don’t love us, or don’t get us, or we don’t get them, and we lose and fail and hurt one another. And the vessel starts to crack in places. And I mean, yeah once the vessel cracks open, the end becomes inevitable. […] But there is all this time between when the cracks start to open up and when we finally fall apart. And its only that time that we see one another, because we see out of ourselves through our cracks and into others through theirs. When did we see each other face to face? Not until you saw into my cracks and I saw into yours.“ Du hast uns viel zu wenig Zeit gelassen, dich zu sehen.

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Katrin meint