»Dieser Glaube, daran, dass ein Buch immer wertvoll sei. Das ist Deutschlehrerkitsch.«

Frédéric Schwildens Debütroman Toxic Man

Ein Gedankenaustausch mit dem Autor und Foto-Künstler im März 2023

Lieber Frédéric (if I may), Dein Debüt Toxic Man erschien 2023 bei Piper. Es ist die Geschichte eines Mannes, so heißt der Untertitel Deines Romans, der auszog, ein Mann zu sein. Es geht um einen Berliner Foto-Künstler, der dafür, dass er zur Künstler- und Bohemien-Szene zuzurechnen ist, durchaus unzeitgemäße Ansichten hat. Er legt sich zum Beispiel gerne fest, sagt zu vielem Ja und heiratet jung. Irgendwie ist er trotz allem ein Punk, obwohl er Geld hat und etabliert ist. Außerdem zieht er von Berlin nach Erlangen in die fränkische Provinz. Wer macht sowas? Viele Beobachtungen, die der Held Deines Romans zur Gegenwart anstellt, beispielsweise Familientraumata, das fehlende Modebewusstsein der Deutschen, die neue Generation, die die letzte sein will, sind total on point. Die Gründe liegen in der deutschen Geschichte, aber auch im toxischen Selbstverständnis der Deutschen: Ernsthaftigkeit, Seriosität, Verlässlichkeit, Leistung, absolute Kontrolle etc. Es gibt kaum Platz für Selbstironie und Leichtigkeit im deutschen Selbstverständnis. Ich habe mich auch an den präzisen Kommentaren zur Sterilität unserer Gegenwart erfreut: Körperlosigkeit, alkoholfreier Wein, Zigaretten ohne Rauch, die absolute Gesundheit. Das Buch besteht aus philosophischen Reflexionen zu unserer Zeit und liest sich ganz wunderbar. Normalerweise weigern wir uns, Romane zu lesen, die über 250 Seiten lang sind, aber Toxic Man (288 Seiten!) ist ein Page-Turner. Vor allem anderen aber beschreibst Du ein anderes Mannsein als das meiner Generation. Viele Probleme des Protagonisten, der wie ich so ungefähr 30+ ist (*Augenzwinkern), kommen mir bekannt vor. Ich gehe nicht weiter ins Detail, aber seine Erlebnisse haben bedrückende Gefühle hinterlassen, die mich zum Nachdenken über mein eigenes Leben veranlasst haben. Das ist für mich ein Anzeichen für Qualität, denn das Buch unterhält nicht nur, es hat mich auch emotional erreicht.


Dr. B: Soll Dein Roman mit überkommenen Vorstellungen von Männlichkeit aufräumen? Oder ging es Dir um therapeutisches Schreiben? Was war Dein Antrieb für das Buch?

F: So viele Komplimente, und ich kann damit wirklich schlecht umgehen. Also ich höre sie natürlich gerne. Gleichzeitig denke ich häufig, das kann doch nicht stimmen. Aber in jedem Fall: vielen Dank. 

Jetzt aber zu den Fragen. Mein Buch „Toxic Man“ soll überhaupt mit gar nichts aufräumen. Kunst, egal welche Ausdrucksform konkret, soll für mich erstmal nur da sein und das menschliche Bewusstsein stimulieren. Für mich besteht eine Notwendigkeit, mich auszudrücken. Diese Notwendigkeit empfinde ich aber nur mir gegenüber. Ich habe das Buch geschrieben, weil ich es musste, und weil ich wahrgenommen werden möchte. Ich möchte selbst wie eine Skulptur funkelnd auf einem Sockel stehen und wahrgenommen werden. Ich, das bedeutet für mich, meine Gedanken. Mein Körper ist nicht wichtig. Ich ziehe mich natürlich sehr gerne an, aber da geht es darum, es für mich zu tun. Ich freue mich, wenn ich durch Mode und Kleidung wieder ein neues Stück Ich erzeugt und gefunden habe. 

Und ja, es geht in meinem Buch um Männlichkeit und Männlichkeiten. Und wenn ich all diese Menschen in diesem Land sehe, dann gibt es da viele Vorstellungen davon, und viele davon, ehrlich gesagt, die Meisten, sind gar nichts für mich. In vielen Formen von Männlichkeiten sehe ich Hilflosigkeit, Verzweiflung, Einsamkeit, das Gefühl, den Anschluss zur Welt verloren zu haben. Aber das sehe ich auch in mir selber. Die Anderen, das ist man häufig selbst.

Ich will niemanden von etwas überzeugen, ich will niemandem sagen, wie Männlichkeit zu sein hat, oder wie nicht. Das ist am Ende Ratgeber- und Selbst-Erniedrigungs- oder -Erhöhungs-Faschismus. Und das ist ganz schlimm.

Dr. B.: Siehst Du Dich selbst als Schriftsteller oder mehr als Fotograf/Künstler? Wird es weitere Romane geben?
F: Mein Körper ist der eines Schriftstellers. Meine Hände schreiben. Aber mein Kopf macht Bilder. Ich sehe dazwischen aber auch keinen Unterschied. Beides ist der Versuch, Gegenwart festzuhalten. Und natürlich wird es weitere Romane geben. Ich arbeite gerade am zweiten. Die Chaiselongue La Chaise spielt eine zentrale Rolle darin. Und Weiblichkeit.

Dr. B.: Warum hast Du Dich für die Romanform entschieden?
F: Alles ist wahr und trotzdem komplett erfunden. Das ist doch das Fantastische.

Dr. B.: Ging Dir Dein Held manchmal auf die Nerven?
F: Permanent! Was für ein Typ! Hat sich nicht im Griff. Will auffallen. Geliebt werden. Alles richtig, und dann doch wieder falsch machen. Meine Güte, der soll sein Leben mal auf die Reihe kriegen. Der hält sich für super, und dann wieder für das letzte Würstchen. Der braucht Erdung. Leute, die das nicht haben, nerven mich. Natürlich sind Harald Glööckler, der Liberace oder Dolly Parton fantastisch, aber gerade deshalb, weil neben den Divenpersönlichkeiten in ihnen kleine schwäbische Jungen oder ein Tomboy aus Tennessee stecken.

Dr. B.: Wir reiben uns – bildlich gesprochen – gern an unseren Gästen und diskutieren kontrovers. Der berühmte, sich ständig an die Nase fassende, slowenische Philosoph Slavoj Žižek spricht in seinem Aufsatz Courtly Love davon, dass Sexualität und Partnerschaft immer auf einem Ungleichgewicht von Macht, auf Exzess, und völliger Illusion bezüglich des Partners beruhen. Sähen wir das wahre Gesicht unseres Gegenübers, begegneten wir ihm wirklich auf Augenhöhe und völlig transparent, wäre jegliche sexuelle Beziehung zunichte gemacht. Man stellt sich den Partner also immer idealisiert vor. Demnach sollte man einander – dem Zeitgeist unserer Generation diametral entgegengesetzt – bis zu einem gewissen Grad fremd bleiben. Gegenwärtige Vorstellungen von Männlichkeit sehen allerdings vor, dass der Mann seine Gefühle und seine Weiblichkeit erkundet, um seinem Partner möglichst unverstellt zu begegnen. Ich denke an die Jack-Wolfskin-Paare, die sich einander nicht nur optisch angleichen. Dass da nichts mehr läuft, ist irgendwie augenfällig. Authentizität, Égalité und Transparenz sind Schlagwörter unserer Zeit. Du schlägst mit Deinem Buch in eine ähnliche Kerbe. Denkst Du, wir sitzen mit diesen Ideen ethischen Wunschvorstellungen auf, oder können Sexualität und Partnerschaft wirklich so funktionieren, wie wir es gerne hätten? 

F: Gleichheit, wird, Gott sei Dank, immer eine Utopie bleiben. Nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern zwischen allen und allem. Politisch ist Gleichberechtigung ein erstrebenswertes Ziel. Aber nicht Gleichstellung, nicht Gleichmacherei. Zivilisation ist der zum Scheitern verurteilte Versuch der Zähmung des Tieres Mensch. Das müssen wir anerkennen. Wir müssen erkennen, dass wir Menschen, so viel wir uns darauf einbilden, neben dem Austernmesser dreihundert Geschlechtsidentitäten erschaffen zu haben, zu großen Teilen Gewalt, Trieb, Biologie, letztendlich programmierte Banalität sind. Wer das nicht wahrhaben will, ist leider größenwahnsinnig.

Žižek ist so ein Angeber. Aber ich finde ihn lustig. Diese grumpy post-sowjet cat, die da oben in der Wohnung über Ljubljana sitzt und über tits und capitalism nachdenkt. Das ist toll. Ich glaube, dass er Recht hat. Ungleichheit, Machtgefälle das ist Sein. Und das Sein hat immer Recht. Auch, wenn es ungerecht, oder was auch immer ist. Das Sein hat in der Natur durch Faktizität Recht. Gesellschaftlich mag das anders sein. Ich finde es auch richtig, dass Gesellschaften permanent versuchen, die Faktizität des Seins zu überwinden. Aber ich sehe auch, dass wir Menschen uns maßlos überschätzen. Wir sind eben nicht Schöpfer dieser, unserer Welt, auch wenn wir es glauben, weil wir Gott getötet haben.

Dr. B.: Hast Du Deinen Helden bzw. Dein Buch weitergedacht? Er nimmt jetzt Antidepressiva, geht seine Probleme aktiv an, macht Therapie usw. Ist alles, was danach kommt, irrelevant? Bis dahin liest sich Dein Roman als Erfolgsstory. Wird er ein besserer Vater und Partner? Wird er die Antidepressiva irgendwann absetzen können? Oder wird er fett, impotent und kann keine Kunst mehr machen oder nichts von alledem? Warum hast Du die Geschichte an dieser Stelle beendet? 
F: Übergewichtig und mit enttäuschenden Halberektionen onanieren, klingt fabelhaft. Um genau diese Offenheit geht es. Ob das Leben eine Erfolgsgeschichte ist, entscheidet der Tod. Das Buch „Toxic Man“ ist zu Ende, aber die Geschichte natürlich nicht. Was aus dem Erzähler wird? Hoffentlich ein liebender und sich lieben lassender Vater und Ehemann. Das ist das Gegenteil von irrelevant. Das ist das Wichtigste.

Dr. B.: Lesen und schreiben stehen für uns immer in Verbindung mit dem Tod oder sie verhalten sich mindestens irgendwie zu der der Tatsache, dass wir nur ganz kurz hier sind. Wer schreibt denn sonst heutzutage noch ein Buch? Steht die Kunst für Dich – Fotografie oder das Schreiben – in einem Verhältnis zum Leben oder Tod?
F: Es schreiben ja alle Bücher. Da sieht man diese absurde Überhöhung von Literatur. Dieser Glaube, daran, dass ein Buch immer wertvoll sei. Das ist Deutschlehrerkitsch. Am Ende glauben sogar Leute wie Bushido oder Annalena Baerbock, ein Buch schreiben zu müssen.

Dr. B.: Ich liebe Deutschlehrerkitsch. Bushido und Baerbock schreiben »Bücher«, ja. Eigentlich nicht, weil das Ghostwriter für sie übernehmen, aber alle meinen, sie müssen ein Buch schreiben. Das stimmt. Dennoch finde ich es schön, dass das Buch scheinbar eine solche Bedeutung hat. Ich spreche aber von echten Büchern. Bücher, bei denen etwas auf dem Spiel steht, in denen es nicht NUR um Unterhaltung, Bullshit oder leere Visionen geht. Ein solches Buch zu schreiben, das bleiben soll, ist eines der schwierigsten Unterfangen. Wir überhöhen das Schreiben aus zwei Gründen. 1. Weil heute zu viele mediokre und grauenhaft langweilige Bücher erscheinen. 2. Weil Schreiben auf verwirrende Weise mit dem Sein in Verbindung steht und weil es das »Göttliche« des Menschen, das über das Individuum hinausreicht, in einem wörtlichen Sinne ausdrückt. Oder, respektive, weil das Schreiben das Eklige, das, was wir in unserer Vorstellung vom Menschlichen nicht sehen wollen, ständig verdrängt. Die wunderbare Psychoanalytikerin und Philosophin Julia Kristeva sagt über das Schreiben, dass das ultimative Objekt der Erfahrung des menschlichen Wollens das Ekelhafte, das Verworfene, ist. Und die Zeichen, die dieses Wollen ständig chiffrieren und ihm Ausdruck verleihen, sind Literatur. Schreiben versucht also dieses Wollen vom Auswurf der menschlichen Existenz zu befreien und „verwandelt“ es ins Göttliche. Deswegen sind Schreiben, der exzessive Kern des Lebens und der Tod für mich immer miteinander verbunden. Man müsste also den Protagonisten, der sich selbst zugleich als Held und Würstchen fühlt, gar nicht »heilen«, denn genau DAS sind wir ja, letztlich. Helden und Würstchen. 

F: Ich liebe ja das Ekelige. Im Ekel steckt so viel Komik, so viel Schönheit, so viel Göttliches. Und natürlich muss man meinen Helden nicht heilen. Ich glaube wir müssen vor allem Krankheit akzeptieren. Die westliche Wohlstandsgesellschaft hat einen antiseptischen Reinlichkeitswahn entwickelt. Alle müssen gesund, und stark und stolz sein. Und falls das nicht möglich ist, wird Krankheit auch zur Gesundheit erklärt. Fett sein ist mutig und schön. Und das kann man ja alles so sehen, aber es verklärt auch das Sein. 350 Killogramm Körpergewicht sind nicht gesund. Und ich finde es absolut okay, das zu sagen. Mein Body Mass Index sagt auch: Nicht gesund. Und das zu leugnen, ist Unfug. Ich trinke zu viel, ich esse das Falsche. Aber soll ich deswegen geheilt werden? Wir sollten nicht jedem Menschen Heilung aufzwingen. Menschen müssen das selbst wollen. Mein Held will es am Ende selbst. Das ist gut für ihn. Aber man, also das Außen, sollte ihn nicht heilen wollen.

Dr. B.: Du sagtest, du musst und willst dich ausdrücken, wahrgenommen werden. Hier ist ja auch eine existentielle Dimension erkennbar, die Du dem Schreiben zuweist. Kunst darf alles, aber wird toxische Männlichkeit so nicht durch toxische Ich-Bezogenheit ersetzt? In den Konstellationen der toxischen Männlichkeit gab es immerhin dann und wann die weibliche Aufopferung. Du sprichst in deinem Buch oft vom Werk des Künstlers. Was muss ein Werk für Dich können? 

F: Ich glaube, dass Künstler in ihrer Kunst natürlich toxisch Ich-bezogen sein dürfen, ja vielleicht sogar müssen. Meese spricht von der Diktatur der Kunst. In der Kunst darf der Künstler natürlich Diktator sein. Im Leben allerdings wäre das fatal.

Und was muss ein Werk können? Es muss Bestand haben. Ein Werk ist größer als eine Zeitgeistidee. Ein Werk ist dann ein Werk, wenn es über die Zeit, in der es produziert wurde, Bestand hat. Es muss eine zeitlose Qualität haben. 

Dr. B.: Danke für das Gespräch, lieber Frédéric Schwilden!


Das Gespräch führte Dr. B.

Zurück
Zurück

Interview mit Sophie Stein

Weiter
Weiter

Interview Rafael Horzon