Nachgewiesene Dringlichkeit

Erster Bericht unserer Auslandskorrespondentin Magistra V. aus der Provinz südlich des Alpenhauptkammes

Die Autorin möchte aufgrund der aktuellen politischen Lage anonym bleiben. Dem Literaturhaus ist die Autorin bekannt. Beim Chatverlauf und dem Gesetzestext handelt es sich um von Historikern geprüftes Quellenmaterial. Bitte lesen Sie zur besseren Verständlichkeit auch die Fußnoten

Wir befinden uns im Jahre 1 n. C. (Corona). Ganz Europa ist von einem Virus besetzt… Ganz Europa? Nein! Eine von unbeugsamen Touristikern [1] bevölkerte Provinz [2] hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten. Hier hat die Sprache nämlich eine derart starke Macht, von der die im restlichen Europa noch verbliebenen Bücherliebhaber kaum zu träumen wagen. Während das Virus auf der ganzen Welt tobt, kann man es in dieser Region mittels Sprachgrenzen aufhalten – notfalls auch mithilfe der Berge. Die südlichen Viren sprechen eine andere Sprache, die nördlichen können sich im hiesigen Dialekt nicht verständigen und bleiben somit ebenfalls jenseits der scharf gezogenen Grenze. 

In diesem Jahre 1 n.C. trug sich jedoch Ungeheuerliches zu. Das Virus wurde ungebremst ins Land getragen, sprach plötzlich englisch und südafrikanisch und schien sich um die Sprachgrenzen kurioserweise nicht mehr zu kümmern. Während die Besatzungszeit im restlichen Europa langsam zu enden schien, färbte sich die Region blutrot – Verzeihung: dunkelrot.[3] Wahrlich eine Ungeheuerlichkeit, dass sich das Virus der sprachlichen Macht nicht fügen wollte. Der Zaubertrank der Anderssprachigkeit, der nun viele Jahre lang gewirkt und vor Eindringlingen geschützt hatte – nun schien er plötzlich wirkungslos zu sein. 

Zwei unbeugsame Ureinwohner wollten einfach nicht glauben, dass die Macht der Sprache und Literatur ganz verloren ist. Und so trug sich Folgendes in einem Chat zu:[4]

Können wir ja mal einen Büchertausch machen. 

Büchertausch ist in den nächsten 3 Wochen nicht erlaubt. 

Das wäre ja quasi ein Notfall.  

Das wird die Polizei aber nicht als Ausrede gelten lassen. 

Ja, nur Pärchen haben die Narrenfreiheit herumzufahren. 

Singles werden total diskriminiert! 

Zum besseren Verständnis der historischen Begebenheiten ein Auszug aus den rechtlichen Bestimmungen der Region im Jahre 1 n.C.: 

Jede Bewegung in ein oder aus einem Gemeindegebiet ist untersagt, es sei denn, diese Bewegungen sind durch nachgewiesene Arbeitserfordernisse, Gesundheitsgründe oder Notwendigkeit oder Dringlichkeit begründet. Auch innerhalb des Gemeindegebietes sind nur jene Bewegungen erlaubt, die durch nachgewiesene Arbeitserfordernisse, gesundheitliche Gründe oder Umstände der Notwendigkeit oder Dringlichkeit (darunter die Notwendigkeit, sich zu pflegebedürftigen Personen zu begeben, die Hunde zur nächstgelegenen Hundeauslaufzone zu bringen oder die Rückkehr zum eigenen Wohnsitz oder zu jenem des Partners) begründet sind.

Es gilt, beim Verlassen der Wohnung stets eine Eigenerklärung mit sich zu führen. Alternativ kann diese auch bei der Kontrolle durch die Ordnungskräfte ausgefüllt werden. 

Erlaubt sind auch Spaziergänge sowie Individualsport, allerdings von zu Hause aus. Individuelle Sportaktivitäten zu Fuß oder mit dem Fahrrad dürfen auch über die eigene Gemeindegrenze hinausführen.

Weitere Auszüge aus dem Chatverlauf: 

Du wohnst in S, oder? 

Cool, dann geht sich ein Treffen in B. aus! 

Ja, im Bus kontrolliert auch niemand und hier gibt es keine Apotheke! 

Perfekt, das geht ja easy. Nach B. komme ich auch locker zu Fuß oder mit dem Rad. 

Ich hätte nie gedacht, dass ich in meinem Leben mal einen illegalen Büchertausch organisieren muss/darf. 

Verrückte Zeiten, so weit ist es schon gekommen! Aber das kriegen wir schon hin! Samstag? 

Ja, das passt. Aber in B. wird anscheinend stark kontrolliert. 

Ein geheimes Plätzchen suchen – nicht gerade Downtown[5]? Z.B. Richtung G.? 

Ja, die illegalen Sachen macht man besser in der Bronx. 

Muss noch ein Pfefferspray organisieren. 

In der Gegend weiß man nie. 

Bei dir weiß ich auch nicht, die Büchersüchtigen sind nicht zu unterschätzen. 

Das sind die schlimmsten. 

Also um halb 2 in the F. woods. 

Wo ist das? 

Da, wo früher mal das Waldfest war.[6]

Ah, den Platz kenne ich. Wenn man Stoff braucht, muss man riskieren. Müsste auch sicher sein vor der Polizei. 

Triggerwarnung: Das folgende Foto kann verstörende Bilder enthalten. Es handelt sich hierbei um verbotene Handlungen. 

Fußnoten

[1] Aus Gründen der Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen die männliche Form gewählt, es ist jedoch immer die weibliche Form mitgemeint. In diesem ersten, speziellen Fall könnten die männlichen Entscheidungsträger jedoch überwiegen. 

[2] Die Rom unterstellte Provinz möchte aus Prestige- und Datenschutzgründen hier nicht namentlich genannt werden. 

[3] Bitte sehen Sie nicht auf den aktuell allseits beliebten bunt gefärbten Karten nach, die Provinz möchte wirklich unerkannt bleiben. 

[4] Die Zitate sind einem Originalchat zweier Ureinwohner entnommen. Der Chat wurde aus dem unverständlichen Dialekt frei ins Deutsch übersetzt. Wir bedanken uns für die Verständlichkeitskorrektur durch Dr. B. 

[5] Beide Ureinwohner hatten in der Zeit v.C. ein Jahr in den damals noch hippen USA verbracht, daher die Referenzen auf amerikanische Begebenheiten. 

[6] In der Zeit v.C. gab es hier noch sogenannte Waldfeste. Ein Fest war eine Zusammenkunft von über 500 Personen. Die Menschen waren damals noch unmaskiert. 

[7] Aktuelle rechtliche Bestimmungen der Provinz: 

“es ist weiterhin erlaubt, in der Nähe der eigenen Wohnung Bewegungstätigkeiten einzeln durchzuführen, jedoch mit der Auflage, dass der Abstand von mindestens zwei Metern zu jeder nicht im eigenen Haushalt zusammenlebenden Person eingehalten wird und mit der Pflicht, einen Schutz der Atemwege zu tragen; (…)

die Tätigkeiten im Detailhandel sind ausgesetzt, auch in Einkaufszentren, mit Ausnahme jener Tätigkeiten, die Lebensmittel und Grundbedarfsgüter, wie in der Anlage 1 beschrieben, verkaufen;” Zu den Grundbedarfsgütern gehörten laut Anlage 1 u.a. Bücher, Unterwäsche, Sportartikel. 

Wir danken Lektorin L. für die Korrekturen und Sprachverschönerungen. 

Nicht nur in den Büchern dreht sich alles ums Geld: Die Handlung wäre laut geltenden Bestimmungen erlaubt gewesen, wenn sie mit einem Bezahlvorgang inklusive Kassenbeleg einhergegangen wäre: Während es nämlich verboten war, sich mit haushaltsfremden Personen an der frischen Luft zu treffen – mit dem Ziel umsonst (!) Gegenstände zu tauschen (Abstand halten nicht möglich) – war es am selben Tag erlaubt, in einem Geschäft Bücher oder Skiunterhosen zu kaufen.[7]

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Damals, jetzt und hoffentlich nie morgen!

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