Damals, jetzt und hoffentlich nie morgen!

»Eben darum finden sie sich nicht in ihr Dasein und sind nicht bereit, von Anfang an mit den Kindern zu leben — denn das ist lehren —, weil sie nirgends in die Sphäre der Einsamkeit hineinragen. Weil sie ihr Alter nicht erkennen, gehen sie müßig. Nur die eingestandene Sehnsucht nach einer schönen Kindheit und würdigen Jugend ist die Bedingung des Schaffens. Ohne dies wird keine Erneuerung ihres Lebens möglich sein: ohne die Klage um versäumte Größe.» 

Aus: Das Leben der Studenten von Walter Benjamin

Von Dr. B., der empfiehlt begleitend zur Lektüre des Textes, »Queen« von Perfume Genius zu hören. Möglichst laut.

Gestern antwortete ich meiner 16-jährigen Cousine im WhatsApp-Chat mit der Abkürzung »KP«, worauf sie zurückgab: »Benutzt Du jetzt Abkürzungen, um wieder jung zu sein oder was? :)« Darauf antwortete ich – tief getroffen: »Stell Dir vor, die gab es schon zu meiner Zeit. Glaubst Du etwa, Ihr hättet das Rad neu erfunden oder wie?« Ich weiß, wirklich schlimm, so ein Satz. Das ist natürlich halb wahr, halb gelogen. Diese Akronyme sind bei Computer-Geeks schon lange gängig, verbreiteten sich aber erst durch die Popularisierung der Mobiltelefone großflächig. Und dann sagte ich noch »Alter findet nur im Kopf statt«. Richtig peinlich. Das stimmt ja auch irgendwie, aber das kann man wirklich nicht sagen, wenn man noch einen letzten Rest Würde besitzt. Leider gibt es zwei Perspektiven. Aus meiner Innensicht fühle ich mich eben überhaupt noch nicht wie 40. Vierzig hört sich irgendwie nach meiner Mutter an. (sie ist 64!) Ich stelle mir jemanden mit zwei Kindern und grauen Haaren in einem Reihenhaus auf dem Land vor, aber nicht mich. Dann gibt es die Außenperspektive der 16-Jährigen, für die ich bestenfalls wie Jürgen Drews rüberkomme, der im Bierkönig für besoffene Muttis singt, die ganz kirre im Kopf werden, wenn sie diesen »gut aussehenden Mann rocken sehen.«

Ich liebe den Club, elektronische Musik, insbesondere Deep House, z.B. bei uns im City Club. Ich fühle mich da wohl und meistens gar nicht zu alt. Manchmal schon, wenn nur 18-Jährige zu richtig hartem Geballer tanzen. Da bin ich raus. Aber meistens fühle ich mich gut. Trotzdem ist es komisch geworden, jemandem zu erzählen, dass ich Samstag im Club war. Um das etwas zu “entschärfen”, erkläre ich dann, dass ich vorher im Café des Clubs war und Pizza gegessen habe, die so gut sei. Ist sie auch, aber ich sage das aus einer völlig falschen Motivation heraus, denn es soll für meine gleichaltrigen Freunde so klingen, als ob ich nach dem Essen noch dageblieben wäre, weil ich ja eh schon da war und so …

Ich WILL denen die Jugend einfach noch nicht überlassen! Ich weiß, dass meine Zeit längst vorbei ist, aber ich konnte sie doch überhaupt nicht RICHTIG genießen, weil ich gar nicht wusste, dass sie irgendwann zu Ende sein würde! Wie ein Sturm ist das alles an mir vorbei gewirbelt, und jetzt stehe ich da mit zerzaustem Haar und schaue desorientiert an mir herunter. »Waren das echt schon die Goldenen Jahre?« Wirklich so kurz? Also eigentlich war das ja alles gar nicht so kurz. Im Gegenteil: seit ich sechzehn bin gehe ich aus. Jung ist man so bis ca. Ende zwanzig, ok, meinetwegen noch bis fünfunddreißig. Das sind zwanzig Jahre! Jetzt bin ich fast VIERZIG. Ja, zum Verständnis noch einmal: VIERZIG! Ich fühle mich einfach noch nicht bereit, den Stab weiterzugeben und werde wahrscheinlich dadurch lächerlich. Aber es gibt ja – Gott sei Dank – die zwei Perspektiven. »Komet Bernhard«, den Berliner Techno-Alten, jetzt ungefähr 72 Jahre alt, interessiert es nicht, wenn ihn 18-Jährige als Spinner abtun. Er tanzt, bis es ihm zu blöd wird oder er nicht mehr kann.

Wahrscheinlich wird es meiner Cousine ähnlich ergehen. Während ich mir heute vergilbte Fotos in Alben anschaue, wird sie irgendwann mit einem leichten Stechen in der Brust ihre alten Instastorys ansehen. Hoffentlich versöhnlicher als ich.

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Dr. B. liest »Auf einmal wurden wir Geister«

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Nachgewiesene Dringlichkeit