EPISODE VIII
Deutschland Ost-West
Die A24 ist eine der letzten Bastionen der Romantik. Wer sich mit seinem Gefährt aus dem zerfaserten Berliner Konglomerat einmal erst herausgewunden hat, findet sich mit einem Mal auf einer von sanften langgezogenen Kurven geprägten Autobahn wieder, die sich unaufgeregt und nahezu ohne Geschwindigkeitsbegrenzungen durch märkische Kiefernwälder und durch die weite, spröde Mark Brandenburg in Richtung Ostsee schlängelt. Dieses Land, das sein Glück und Seelenheil geopfert hat, um aus Eisen und Kautschuk feuerbetriebene Maschinen zu bauen und breite Teerschneisen durch Wälder und Täler zu schlagen, hat keine bessere Schnellstraße hervorgebracht. Die A24 verkörpert die Uridee des automobilen Freiheitsversprechens.
Wrumm! Ich drücke das Gaspedal des Nissan Cashqai durch, den ich vor einer guten Stunde bei einer Mietwagenfirma hinter dem Berliner Hauptbahnhof ausgelöst habe. Das Ziel: den Blick frei bekommen, raus aus der Stadt, hin zum Meer. Der Tank ist voll, der Horizont weit, das Cockpit riecht neu. Ich nehme einen Schluck aus dem Red Bull Sugarfree, beiße in ein Hanuta be2ready und drücke das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Der deutsche Traum lebt.
Es ist bereits diesig an diesem späten Nachmittag im Frühherbst, als ich bei Upahl von der Autobahn abfahre und sich das spröde mecklenburgische Land in die Windschutzscheibe drängt. Im Multimedia-System des Nissan läuft erst Taylor Swift, dann ein Ulf Poschardt-Podcast, dann wieder Taylor. „I come back stronger than a 90s trend“.
Grevesmühlen, Rolofshagen, dann Damshagen. Am Ortseingang von Klütz steht ein Polizeiwagen quer auf der Straße. Eine Polizistin winkt mich mit einer Kelle heraus und macht mit der flachen Hand eine nach unten wedelnde Geste. Der Elektrofensterheber surrt. „Guten Tag. Gesperrt, Großveranstaltung“, meint die Polizistin mit schnoddrigem Akzent. Ich nicke und will schon wieder anfahren, da meint sie: „Oder sind Sie Presse? Sind Sie Presse oder was?“ Ich gucke sie einen Moment mit meinen leeren, übermüdeten Augen an, dann nicke ich. „ZDF“, entgegne ich nur. „Ah, das dachte ich mir fast“, meint die Polizistin „Fahren Sie durch.“
Am Marktplatz von Klütz steht ein großer LKW, an dessen Anhänger große Stoffplakate befestigt sind, mit Aufschriften wie „Klütz ist bunt“ oder „Kein Platz für Hass und Hetze“. Achso, denke ich und will schon wieder kehrt machen, als plötzlich eine schwarze Limousine mit Frankfurter Kennzeichen anfährt. Es steigen aus: Die Autorin Thea Dorn, der ZEIT-Feuilletonist Ijoma Mangold und Michel Friedman. Die Polizisten umklammern ihre Westen auf Brusthöhe und wirken auch sonst angespannt. Am Ende des sich rasch mit Menschen füllenden Marktplatzes entdecke ich im Vorgarten eines Wohnhauses direkt gegenüber des örtlichen Literaturhauses ein breites Stoffbanner. „30 Jahre Ehrenamt mit einer Lüge zerstört!!!” . Ich trotte in die angrenzende Bäckerei, und während die beleibte Verkäuferin meinen Apfelstrudel und zwei Schoko-Croissants einpackt, lasse ich mir von der beleibten Verkäuferin erklären, dass hier heute eine Kundgebung des PEN Berlin stattfinde, dieser Autorenvereinigung. Es gehe um das Literaturhaus hier und Michel Friedman und irgendwas sei mit dem Bürgermeister, der Friedman wohl nicht hier haben wolle und ihn wieder ausgeladen habe, nachdem der Leiter des Literaturhauses ihn zunächst eingeladen habe. So ganz verstehe ich das alles nicht, aber macht ja nix, als ich mit vollem Mund wieder auf den Marktplatz trete, hat die Kundgebung bereits begonnen.
Der Leiter des Literaturhauses spricht gerade vorne auf der Bühne, Friedman und Dorn stehen daneben, vom Bürgermeister keine Spur. Dann ergreift Friedmann das Wort und meint irgendwas von wegen, dass er eine „unerwünschte Person“ sei und dass er gedacht habe, Deutschland hätte das hinter sich gelassen und dann wendet er sich direkt an das Publikum und fragt vorwurfsvoll, warum erst der PEN Berlin aus der Hauptstadt kommen müsse, bis sich so etwas wie Protest rege und die Klützer nicht von sich aus gegen seine Ausladung protestiert hätten. Die Stimmung auf dem Marktplatz ist äußert gereizt, vereinzelt gibt es Buhrufe gegen Friedman, und immer, wenn der Literaturhausleiter das Wort ergreift, werden sie nochmal lauter. „Lügner!“ rufen dann ein paar. Irgendwann – mein Schokocroissant und die Apfeltasche habe ich da schon wieder vergenussferkelt – beginnen die Ordner von PEN Berlin, mit Mikrofonen über den Marktplatz zu gehen und die Leute zu Wort kommen zu lassen, was natürlich immer gut gemeint ist, aber in der Praxis eine Mischung tragikomische Gestalt annimmt. Schnell kristallisiert sich raus, dass fast jeder Hintz und Kuntz was zu sagen hat, und Friedman und Dorn stehen oben auf der Bühne und hören sich das alles mit einem gequälten Lächeln an. Unten hat sich tatsächlich Ijoma Mangold als eine Art Bodyguard positioniert, in seinem eng ansitzenden Pea-Coat mit aufgestelltem Kragen, der Hornbrille und staatstragendem Blick über dem Gesicht. Er trägt abgewetzte weiße Sneaker, was natürlich auch ein bewusster ästhetischer Code all jener mittelalten Berliner Kulturbetriebsmenschen ist – was eigentlich Understatement vermitteln soll, unterstreicht in Wahrheit umso mehr deren Eitelkeit.
Als sich die Menschenmenge langsam auflöst und auch ich den Marktplatz in Richtung meines Nissan Cashqai verlasse, gibt Friedman der ARD noch Interviews. Die Interviewerin mit dem Mikrofon in der Hand sieht sehr klug und verwegen aus, und kurz überlege ich, ob ich sie ansprechen soll, so als Kollege vom Öffentlich-Rechtlichen, aber dann lasse ich es bleiben. Ich wollte ja ans Meer.
Tiefblau ist die Nacht, als ich im Ostseebad Boltenhagen ankomme. Die Straßen sind leer, einzig Laubwirbel pflügen über die Bordsteine. Der Hunger navigiert mich in den McDrive und während ich in der Schlange warte, stelle ich beim Swipen auf Booking und AirBnB fest, dass es weder in Boltenhagen, noch in Klütz ein freies Hotelzimmer für unter 300 Euro die Nacht gibt. Ich tippe die Uferpromenade ins Navi ein und parke dort den Wagen vor einem pompösen, aber vom Zahn der Zeit angefressenen Hotel. Das Haus war im Wirtschaftswunder-Deutschland sicherlich mal eine gute Adresse, ehe die nivellierte deutsche Mittelstandsgesellschaft in den 90ern begann, nach Mallorca in die Ferien zu fahren und ehe Destinationen wie Bali zum Geheimtipp wurden, wo heute nervöse Hausfrauen aus Göttingen oder dem Stuttgarter Umland beim Yoga-Retreat ihre Ärsche und Scheiden in die feuchte Tropenluft strecken.
Jedenfalls wird mir rasch sehr schlecht von den Chili Cheese Nuggets und dem Big Tasty Bacon. Ich lasse die Fahrerscheibe einen Spalt runter, bedecke mich mit meinem Trenchcoat, wobei ich dessen Schlaufe für einen Moment aus Versehen in das Plastikschälchen Süßsauer-Sauce tunke. Von der nahen, dunklen See geht eine steife Brise. Sie riecht nach Taurin und Glutamat.
Es ist 6 Uhr in der Frühe, als ich aus traumlosem Schlaf erwache. Ich steige aus dem Wagen, ziehe den Trenchcoat über und schlurfe in Richtung der Uferpromenade, vorbei an verlassenen und niedergebrannten Schaubuden über eine kleine Kuppe. Als ich den Scheitelpunkt der Kuppe erreiche, breitet sich mit einem Mal die Ostsee vor mir auf. Am Horizont, Richtung Baltikum schwimmt die Sonne wie ein roter Ball im Meer. Durch den Himmel ziehen Streifen von Mauve und Champagner, in die sich jeweils Kleckse von Violett und Alabaster mischen. Ich merke, wie meine Augen anfeuchten, tief hinten in der Stirn. Der Wind ist wirklich rau hier an der Ostsee.
