EPISODE VI

Kisch & Koitus

Mit Egon Erwin Kisch durch Prag

Perplexity sagt, dass Wikipedia sagt, dass ein „Pitaval“ eine literarisch gestaltete Sammlung von historischen Strafrechtsfällen ist. 

Ich nehme einen Schluck aus der Dose Red Bull Sugar Free neben dem Bett, reiße die Verpackung eines Nutella b-ready auf und lese weiter.

Als literarischer Vorläufer der heutigen Krimi-Stories und Gerichtsreportagen seien solche Pitaval-Geschichten noch bis vor hundert Jahren der letzte Schrei gewesen. Von Schirach im Neunzehnten Jahrhundert, oder so. 

Ein Krachen, Nougatcreme füllt meinen Mundraum. Die Krümel fallen auf das Cover von Egon Erwin Kischs „Prager Pitaval“, das im geöffneten Koffer neben dem Bett liegt. Draußen gedämpfter Motorenlärm, Leute rufen sich in einer fremden Sprache Dinge zu. Ich blicke aus dem Fenster hinunter auf den Havelka-Markt im Zentrum Prags.

Es ist ein diesiger Tag Ende Februar, an dem es bereits am Nachmittag wieder zu dämmern beginnt. 

Nach meiner Ankunft am Morgen war ich schnurstracks mit dem Koffer in der einen, dem Gehstock in der anderen Hand zu meiner Unterkunft in der Innenstadt gelaufen. Wobei, warten Sie, das ist gelogen, in einer Wechselstube im Bahnhof hatte ich mein letztes Bargeld gegen tschechische Kronen eingetauscht und war mit einem Bündel tschechischer Scheine nebenan in die Bahnhofsbuchhandlung gegangen. Dort griff ich nach einem Red Bull und dem Nutella-Keks, und fast hätte ich auch noch jenes mit dem Schriftzug „Svoboda“ betitelte Buch mit dem Konterfei Angela Merkels auf AfD-blauem Hintergrund gekauft, das prominent im Laden platziert war. Stattdessen hatte ich noch nach der aktuellen BILD gegriffen und den Laden verlassen.

Jetzt also in meinem Mansarden-Zimmer im Golden Age Hotel am Havelka-Markt. Der Tag zieht vorüber wie das Glück. Durch das kleine Fenster neben dem Bett beobachte ich, wie unten die Marktbeschicker ihren Touristen-Krempel einräumen. Ich gehe ins Bad, putze mir dort die Zähne. Dann wichse ich meine Schuhe und schneide mir die Nasenhaare. Betrachtungen meines blassen Gesichts im Spiegel, das mir verquollen und ausgemergelt zugleich vorkommt. Ich lege mich wieder ins Bett, lausche dem Havelka-Lärm auf der Straße, röchele vor mich hin. Das Handy vibriert, eine Mail von booking.com mit Tipps zu Sehenswürdigkeiten in Prag. Ich lege es weg, beginne zu onanieren, lasse es dann doch wieder bleiben, es führt ja zu nichts und greife stattdessen nach Kischs „Prager Pitaval“ im Koffer.

Die Geschichten sind in einer seltsam blumigen, von Schmalz triefenden Sprache formuliert, die schnell sehr anstrengend zu lesen wird. Ich werfe das Buch zurück in den Koffer, greife nach „Paradies Amerika“ und komme schnell zu dem urteil, dass das der um Längen interessantere Reportagen-Band von Kisch ist. Schnelle, direkte Sprache, genaue Schilderungen, da blitzt er auf, Egon Erwin Kisch, Sohn dieser Stadt, der beim damals deutschsprachigen Prager Tagblatt seine Karriere begann, ehe er zum rasenden Reporter und schreibenden Interrail-Express zwischen Prag, Wien und Berlin wurde.

Irgendwann merke ich, dass es dunkel geworden ist in Prag und ich nur dank der Straßenlaterne vor dem Fenster noch die Buchstaben lesen kann. Der Magen knurrt.

Ich lege das Buch aus der Hand, raffe mich auf, schlüpfe in die Stiefel und den Mantel, trage einen Spritzer “Tulpen” von Harry Lehmann aus der Berliner Kantstraße auf und poltere die enge Wendeltreppe des „Golden Age“ hinunter.

Prag also, diese seltsame Ansiedlung am Tor zu Osteuropa - düster und malerisch, reich an vergangenem Ruhm und Kämpfen. Draußen liegt der Havelka-Markt still unter Pfützen. Ich trotte um die Häuser, biege mal da ab, mal dort ein, laufe über die Karlsbrücke, an deren Brüstungen mich die verzerrten Fratzen gotischer Skulpturen anstarren.

Auf der anderen Flussseite kaufe ich mir an einer Bude eine Špekáček, eine tschechische Speckwurst und setze mich auf eine Bank im Klárov Park. Eine Kirchturmuhr schlägt Achte. Gruppen von Studenten strömen an mir vorbei, ich beobachte sie mit meiner Wurst in der Hand. Sie haben junge, frische Gesichter, in denen sich Bildung, Sanftmut und ein gesundes Nationalbewusstsein die Waage halten. Ihre Gesten haben etwas Verbindliches, ihre Bewegungen etwas Rundes, und wenn sie lachen, kommt das aus vollem Herzen, und ich muss, während ich mir den letzten Bissen der Špekáček in den Mund schiebe, an die leeren Minen deutscher Studenten denken, die doch meist Ausdruck einer geistigen Überspanntheit oder eines inneres Mehltaus sind.

Über die Brücke der Legionen kreuze ich abermals die Moldau und betrete auf der anderen Flussseite das Cafe Slavia. Die Špekáček hat mich nur noch hungriger gemacht.

Ich ziehe meinen Mantel aus und setze mich an einen Eckplatz an der Fensterfront. Gegenüber von mir im Gang spielt ein Pianist erst Debussy und dann Smetana. Vor dem Fenster ziehen die Lichter der Stadt vorüber, Autos, Straßenbahnen, Laternen, schimmernd in den nassen Straßen. Der Kellner bringt Hähnchenbrust mit Paprika und ein Pivnì special. Während ich esse, finden sich an den Nebentischen allmählich Paare und Gesellschaften ein. In ihrem Wesen liegt die gleiche Unmittelbarkeit wie bei den Studenten zuvor drüben im Karov Park. In gewisser Weise gleicht das tschechische Volk, denke ich, während ich ein Stück Hähnchenbrust mit der Gabel aufspieße, einem unter Druck gepressten Diamanten. Hier, wo Unterjochung und Fremdherrschaft über Jahrhunderte hinweg der Regelfall waren, erst durch das Heilige Römische Reich und den KuKlern, später dann von den braunen Deutschen und den dunkelroten Russen, hier hat sich unter diesem identitären Alpdruck aus allen Himmelsrichtungen ein edler und wacher Menschenschlag herausgeformt, der all das verkörpert, was man im besten Sinne europäisch nennt. Ich nehme einen tiefen Schluck Bier, wische mir mit dem Handrücken den Schaum vom Mund und verlasse das Cafe Slavia.

Ich stromere durch die Kopfsteinpflastergassen, vorbei an den barocken Statuen, den Kathedralen, den geheimnisvollen Behausungen der Alchemisten, den seltsamen süßlichen Gerüchen des alten Ghettos. Vor einem Geschäft bleibe ich stehen und blicke in das spiegelnde Schaufenster, in dem sich die depressionsumwölkten Augenhöhlen Franz Kafkas von einem in der Auslage liegenden Buchcover über mein eigenes Selbst legen. So starre ich eine Weile in mein halb entfremdetes Spiegelbild, und als ich gerade weitergehen will, fällt mir in der Spiegelung ein dunkler, brauner Fleck am Saum meines Trenchcoats auf. Ich blicke an mir hinab, reibe und rubbele daran. Es fühlt sich trocken und verkrustet an, ein bisschen wie Nutella, und als ich daran rieche, habe ich die Gewissheit: Schuhcreme.

Der Prager Marktplatz ist bevölkert von asiatischen Reisegruppen und Sauftouristen aus Sachsen-Anhalt. Ich biege in eine wenig belebte Seitengasse ein und bleibe dort vor einem seltsamen Etablissement stehen. Die Torflügel sind weit aufgesperrt, aus dem Inneren dringen alte französische Chansons auf die Straße. Ich trete über die Schwelle. Ein fröhlicher Asiate begrüßt mich auf englisch und verlangt 90 Kronen Eintritt von mir. Ich gebe ihm ein Bündel tschechischer Scheine und gehe durch ein Drehkreuz weiter ins Innere. 

In einem Foyer empfängt mich ein riesiger, überlebensgroßer Holzpenis, hinter dem an den dunkelroten Wänden grobkörnige schwarz-weiß Fotografien pornographischer Szenen hängen.

Ich folge einer Treppe ins Obergeschoss. Iinmitten eines Raumes in einer Vitrine stoße ich auf eine Streckbank, über der eine alte lederne Reitgerte hängt. Daneben ein Fahrrad-Hometrainer aus den 60er-Jahren, der Sattel aufgeschnitten und die Pedale über ein Getriebe mit einem großen Dildo verbunden, der aus dem Loch im Sattel herausragt.

Und wie ich so von einem Raum in den nächsten gehe, vorbei an Lustgeräten aus den vergangenen Jahrhunderten, werde ich immer vergnügter und erwische mich dabei, wie ich mehrfach heiter zu lachen beginne -  wie die Prager Studenten auf der anderen Seite der Moldau.

Und dann übermannt mich doch wieder die Melancholie. Es ist nur ein kleines Gerät hinter einer Vitrine im letzten Raum vor dem Ausgang. Ein mit Dampf betriebener Kolben mit einem Kessel für die Kohlen am hinteren Ende, vorne ein hölzerner Stab, an dessen vorderem Ende ein elastisches Kautschuk-Stück in Form eines Penis gestülpt ist.

Mit dem Handrücken wische ich über meine feuchten Augen. Diese Dildo-Dampfmaschine, Ausdruck einer menschlichen Sehnsucht, die sich durch die Jahrhunderte und Generationen hindurch zieht wie ein unsichtbares Band, verbindet die Vergangenheit mit der Gegenwart. Jene Dinge, die nicht darauf ausgelegt sind, in einer unbestimmten Zukunft als Chronik einer Epoche zu dienen, verraten uns am Meisten über das Leben unserer Vorfahren.Und wie ich das Museum verlasse und wieder hinaus in die Stille der Nacht trete, denke ich, dass es nur logisch ist, dass ein solches Gerät gerade hier in dieser Stadt steht. Prag, diese Stadt im Herzen des Kontinents, mit seinen krummen Gassen, aus denen der süßliche Brodem aus Scham und Wollust, aus Genius und Niedertracht, aus Zeugung und Verwesung emporsteigt. In Prag lebt der Geist des neu-alten Europas.

Weiter
Weiter

Episode V - Metall auf Metall