Coping with Corona

Literarische Bewältigungs-strategien

Coping with Corona –
Literarische Bewältigungsstrategien

von Dr. Franziska D.

Unser Kanon hilft!

Unsichere Zeiten hervorgerufen durch eine weltweite Gesundheitskrise. Wir haben das erste Mal in unserem Leben das Gefühl, es könnte wortwörtlich ans Eingemachte gehen. Ob die Angst real und begründet ist oder die Angst vor der Angst das schlimmere Übel, wissen wir nicht. Mal befinden wir uns am Wendepunkt der Geschichte, soll gar die größte Herausforderung seit dem 2. Weltkrieg sein – ein Krieg der Antikörper! Mal sei alles nur Panikmache und irgendwie wird`s schon werden, wurde ja bis jetzt noch immer. Je nach aktueller Gefühls- oder Wetterlage und abhängig vom letzten konsumierten Medium pendeln wir also hin und her zwischen diesen zwei Polen, bis uns ganz schwindelig ist. 

Quarantäne hin, social distancing her, schön ist das alles nicht (Ich weiß das, ich habe zwei kleine Kinder). Lesen ist immer eine gute Idee. Jetzt hat man Zeit (ich nicht, ich habe zwei kleine Kinder) und Netflix nervt irgendwann. Wir haben eine Liste erstellt mit Büchern, die nicht nur die Zeit vertreiben, sondern die Bewältigungsstrategien bereithalten für und gegen Corona und deren Entourage an unerfreulichen Begleiterscheinungen.

Leif Randt
 
Allegro Pastell

Die Vogel-Strauß-Methode: 
So tun als wäre nichts gewesen und einfach mit diesem Buch die Normalität wiederherstellen.

Allegro Pastell ist eine Liebesgeschichte zwischen der hippen Autorin Tanja und dem erfolgreichen Webdesigner Jerome, die uns irgendwie allen hätte passieren können oder so oder so ähnlich schon passiert ist. Zwischen Berlin und Maintal bei Frankfurt spannt sich die (Fern)Beziehung der beiden auf. Gefühle und Worte sind wohl abgewägt, es wird reflektiert und re-reflektiert. Und am Ende ist alles irgendwie nachvollziehbar und damit auch unangreifbar. Das kann man so lala finden als Leser. Oder darin ein perfektes Abbild einer Generation erkennen. Die Irgendwas in den Dreißigern sind so, die Gesellschaft ist so. Irgendwie ok, einerseits und andererseits. Man muss schon auch sehen, dass … Krass ist an diesem Buch gar nichts. Es ist pragmatisch, konsequent poppig und nice. Eine spannende Story erwartet den Leser nicht, jedoch eine Milieustudie, die mit genauesten Szene-Beschreibungen auch sprachlich alles auscoloriert und damit aufbietet, was für einen »Roman unserer Zeit« nötig ist. Der Roman ist pastell – wir Style-Bloggerinnen und Hashtagger wissen: das steht nicht jedem, aber wenn, dann isses extrem geil.

Juri Andruchowytsch
Kleines Lexikon intimer Städte

Flucht:
Einer der basalen Urinstinkte in Gefahrensituationen ist der Wunsch zu fliehen.

Einfach mal raus! Alles vergessen und hinter sich lassen. Ist gerade nicht. Umso schöner, dass wir wissen: In Gedanken kann man mindestens genauso gut reisen. Folgt man Juri A. in die von ihm alphabetisch vorgestellten Städte, lernt man nicht nur Land und Leute kennen, sondern in erster Linie den Autor. Die persönliche Bindung zu den Städten, die eben gerade nicht nach dem Prinzip Sterne auf TripAdvisor ausgesucht wurden, macht dieses Reisebuch zu einem intimen. Wir haben gerade viel Zeit. Warum lassen wir uns nicht inspirieren und schreiben unser eigenes Lexikon der bereisten Städte. Und schon fliegen die Gedanken zu all den schönen Plätzen und Anekdoten, die das eigene Reisen, von Reiseführern unterscheiden.

Friedrich Dürrenmatt
Romulus der Große

Historisierung:
Die Geschichtswerdung der Ereignisse noch während sie passieren versetzt uns in eine Zukunft, in der alles, was gerade passiert, schon Geschichte ist. Außerdem kann man aus Geschichte lernen. Und zwar nicht nur dann, wenn es um die Wahl eines Ministerpräsidenten aus Thüringen geht.

Das Römische Reich schien unverwundbar, unsterblich – es war ewig. Bis es eben zusammenbrach. Wenn Gewissheiten erschüttert werden, wie momentan der Fall, empfiehlt sich diese Komödie von Dürrematt. Nicht nur weil geistreicher Humor immer Balsam für die Seele ist, sondern auch weil es einen frischen Umgang mit systemerschütternden Ereignissen nahelegt. Der nahende Niedergang des Römischen Reiches im 5. Jahrhundert n. Chr. geschieht (zumindest bei Dürrenmatt) mit aktiver Unterstützung des letzten weströmischen Kaisers Romulus. Er verachtet die grausame Vergangenheit des Reiches und sieht darum keinen Grund zur Systemerhaltung. So sitzt er in seiner Villa in Kampanien, züchtet Hühner und trinkt Spargelwein. Alle Versuche der ihn Umgebenden, ihn zum Widerstand gegen die einfallenden Germanen aufzurufen, sind vergebens. Romulus’ Tochter Rea liebt eigentlich Ämilian, würde aber dennoch den Hosenfabrikanten (Hosen werden wohl bald der heißeste Scheiß) Cäsar Rupf anstelle ihres Geliebten heiraten, nur um das Reich zu retten. Doch – wie schön! – Romulus, ein Herrscher mit Format und Werten, lehnt ab. Die Liebe zu einem Menschen sei schließlich wichtiger als die zum Vaterland. Als Romulus schließlich dem Anführer der Germanen gegenüber tritt … Spoiler sind doof. Und besonders bei diesem Buch, das voller Aha-Momente ist, wäre es eine Schande dem Leser diese Freude zu nehmen. Wie haben ja sonst nichts im Moment.

Emma Donoghue
Raum

Konfrontation:
Indem man sich seinen Ängsten stellt, sollen diese bewältigt werden.

Die Quarantäneanordnungen sind zwar unterschiedlich streng ausgeprägt, aber irgendwie sind sie alle noch moderat, angesichts dieses bedrückenden Romans. Aus der Sicht des 5-jährigen Jacks geschildert befindet sich der Leser mit ihm und seiner Ma in „Raum“. Raum ist ein paar Quadratmeter groß, in ihm stehen Gegenstände, Licht dringt nur durch ein kleines Oberlicht und es gibt eine verschlossene Tür. Das ist Jacks Welt, die einzige, die er kennt, denn er wurde schon hier geboren. Er liebt es fernzusehen und so seine “Freunde” zu treffen, die Zeichentrickfiguren. Dass diese nicht real sind, weiß Jack natürlich, aber dass es eine Welt außerhalb von Raum gibt, ist für ihn neu. Irgendwann erklärt ihm Ma, dass sie versuchen müssen auszubrechen. Der Gegensatz von Innen und Außen, Objekten und Subjekten sowie die Frage, was es heißt behütet zu sein, sind hier anhand einer schier unerträglichen Situation geschildert: eine 19-Jahrige wird von einem Mann in einem Raum festgehalten und immer wieder vergewaltigt. Das alles wäre Stoff für einen sensationstriefenden Thriller. Raum ist da anders. Der Roman ist gedämpft und in seiner anfänglichen Unschuld und Unscheinbarkeit wird der Leser förmlich überrollt von der Heftigkeit der Ereignisse. Absolut passend dieser Tage sind die durch den geglückten Ausbruch aufkommenden Fragen: Was bedeutet es frei zu sein? Welche Unsicherheiten bringt ein eigenverantwortetes Leben in Freiheit mit sich? Diese Fragen werden durch den Blickwinkel der kindlichen Naivität völlig unprätentiös an uns herangetragen. Das Thema ist heftig, die Sprache einfach gehalten, teilweise in Kindersprech – das Gesamtpaket absolut packend. 

Karen Russel
 Swamplandia

Rückbesinnung auf Werte:
Manchmal hilft es sich daran erinnern, was wirklich zählt im Leben. Familie zum Beispiel.

Swamplandia ist ein skurriler Vergnügungspark in den Sümpfen Floridas. In Swamplandia wird noch mit Alligatoren gerungen. Alles wird jedoch anders als Avas Mutter, das Oberhaupt der Familie, stirbt. Daraufhin verschwindet erst der Bruder, dann der Vater aufs Festland. Die ältere Schwester ist zu allem Überfluss einem Geist verfallen. Ava, die nun nicht nur für die 70 Alligatoren verantwortlich ist, ist fest entschlossen um ihre Familie zu kämpfen. Während einer turbulenten Familienzusammenführung entpuppt sich schließlich das Mädchen als echte Heldin. Aber es geht in Karen Russells Roman um mehr, es geht um Natur und um deren Zerstörung, um wirtschaftliche Anhängigkeiten und um Außenseiter. Sprachlich ist der Roman wild und fantasievoll, manchmal mystisch, manchmal auch etwas sumpfig-zäh. Aber das Happy-End tut in jedem Fall gut. Und jetzt skypen wir erst mal mit unserer Familie.

Photo Credit: Dan Hawk

Max Goldt
Die Chefin verzichtet

Hurmor:
Die Resilienzforschung weiß Lachen hilft, immer, und gegen alles.

Max Goldt ist so etwas wie Kult. Diese Sammlung an Erzählungen und Essays, teilweise in Interviewform, ist keine Ausnahme. In einem gewissen Sinne gleichen sie sich alle. Wurden z.B. in »Mind boggling« – Evening Post Beiträge aus der Titanic von 1997 zusammengetragen, sind es bei Die Chefin verzichtet 16 Texte aus den Jahren 2009 bis 2012. Alter Käse? Au contraire, meine Lieben. Bei Monty Python würde auch niemand auf die Idee kommen ein Verfallsdatum zu veranschlagen. Max Goldt beobachtet genau und bohrt an der richtigen Stelle mit dem moralischen Zeigefinger in der Suppe menschlichen Zusammenlebens und anderer gesellschaftlicher Phänomene. Jogurette ist ohnehin ein selten verschriftlichtes Kulturgut, aber wenn der Autor den Bogen zum Klimaschutz spannt, wird schnell klar, dass hier jemand Spaß an ungewöhnlichem Denken hat. Das alles gießt Goldt noch in unberührte/unverdorbene Bilder. Da gleichen verklumpte Wimperntuschenwimpern nicht etwa Fliegenbeinen, so der gängige Vergleich, sondern sehen aus wie Mohnblumenstengel mit Läusebefall. Dass Max Goldts Sprache innovativ und geistreich ist und sein Blickwinkel aus einer ungewöhnlichen Richtung kommt, kann wohl mit Fug und Recht behauptet werden. Und das ist doch schon was, wenn man anderenfalls die Wahl zwischen How I met your mother oder Prozac hat.

Daniel Kehlmann
Tyll

Relativierung:
Es könnte alles viel schlimmer kommen.
Oder länger. Oder beides.

Der 30-jährige Krieg war sehr schlimm. Und dauerte sehr lange. Ideal also für die Keule: Wenigstens sind wir nicht im 30-jährigen Krieg. Wir erhalten einen Einblick in die Wirren dieses epischen Krieges, indem wir der Hauptfigur Tyll Ulenspiegel folgen, der als Lebenskünstler und Gaukler durch das gequälte Land reist.  Er trifft wie in einem Schelmenroman üblich nicht nur die einfachen Leute aus dem Volk, sondern auch die Größen der Zeit. Besonders schön ist es, das Königspaar Elizabeth und Friedrich von Böhmen kennenzulernen, die den Krieg eher aus Versehen auslösten. Elizabeth fühlt sich verschleppt ins barbarische Deutschland und vermisst Englands Hochkultur, der Pfälzer Friedrich wird als »Winterkönig« zum Gespött und passt so gar nicht in das taktierende Treiben des Europäischen Adels. Kehlmann, man kann ihn mögen oder nicht, ist unbestritten einer der besten deutschen Erzähler. Er beherrscht das Handwerk zur Perfektion ohne streberhaft sein Können vorzuführen. Die Gesellschaft zur Zeit des 30jährigen Krieges hängt im Aberglauben und der Religion fest, der Fortschritt und die Wissenschaft haben kaum eine Chance. Dies personifiziert sich beispielsweise in Athanasius Kircher, der seine Versuchsergebnisse allesamt erfunden hat. Auch Tylls Vater ist ein Opfer der kirchlichen Machtstrukturen und des tumben Aberglaubens der Menschen. Als Weltforscher und Magier denunziert wird er letztlich exekutiert. Was hältst du davon, hier noch eine Parallele zu ziehen? Wir im hyperrationalisierten 21. Jhd. halten Covid 19 nicht für so schlimm oder übertrieben. Bzw. einige von uns haben das getan. Oder zum Informationskrieg, Fakenews etc.? Also am Schluss noch mal auf die Aktualität hinweisen, ohne »Aktualität« zu sagen.

Auch heute noch scheint die menschliche Dummheit unendlich wie ein nie enden wollender Krieg zu sein Wissenschaftliche Erkenntnisse und fundierte Informationen sind so leicht zugänglich wie nie und doch scheinen die Verlockungen einfacher Erklärmodelle zuzunehmen. Der Kontrast zwischen aktuellen Krisen und Kriegen einerseits und den mannigfaltigen Späßchen der Unterhaltungsindustrie andererseits ist gravierend. Die von Kehlmann mit Leichtigkeit geschilderte Brutalität jener Zeit und die Verspieltheit Tylls legen diesen Antagonismus jener Zeit meisterhaft offen. 

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Katrin meint