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Remix 3

Die Ampel springt auf GRÜN – Remix 3

Benjamin von Stuckrad-Barre mit Remix 3 am 27. April im Jahr 2018 in der Muffathalle in München

 220813 –> Mit diesem Code kann man Benjamin von Stuckrad-Barres Handy entsperren.

Jeder kann Benjamin von Stuckrad-Barre was abgewinnen. Ausser mein Freund, der meinte, er hätte diese Phase schon lange hinter sich gelassen, weshalb er jetzt auch mein Ex-Freund ist. Aber nicht nur deswegen. Auf jeden Fall war Stuckiman neulich in München, um aus seinem neuen Buch vorzulesen und wir wollten dahin und später noch «durch die Clubs ziehen». Wir wollten ins Blitz, das ein bisschen wie das Berghain sein will, es aber nicht ist und weil wir auch immer gerne ein bisschen das sein wollen, was wir nicht sind, fanden wir das ganz passend. Aber erst mal Stuckiman in der Muffathalle. Die Leute stehen Schlange, aber interessanterweise beschwert sich keiner, als S und ich uns bis zu E vordrängeln, die schon eine Weile auf uns gewartet hat. R kommt später nach, hat er gesagt, alles andere hätte uns auch überrascht, einfach weil R manchmal etwas länger braucht, obwohl er in allen Dingen, wenn er sie dann mal macht, viel schneller ist als wir. Stempel auf die Pulsader und wer eine Karte für einen Sitzplatz (frei wählbar) gekauft hat, darf hinter die Absperrung und sich setzen. Alles ganz zwanglos.

Stucki zieht eine sehr heterogene Masse an Menschen an, die jedes Klischee erfüllen – darüber zu schreiben, wäre ein weiteres, aber damit kann ich leben. Also: Mädchen, die so jung sind, dass sie vermutlich nach der Lektüre von «Soloalbum» gezeugt wurden, aber Leben und Werk von Stuckiman auswendig kennen. Die grüne Militärjacken, Vans und Ringelshirts tragen, Wimperntusche leicht verschmiert, Haare nur ein bisschen strähnig. Paare Ende dreissig, die sich im Lesekreis kennengelernt haben, als «Deutsches Theater» besprochen wurde. Das Buch steht jetzt im String-Regal in der Altbauwohnung neben dem Fotoalbum, das Mias oder Finns oder Lenis erstes Lebensjahr abbildet – Polaroid. Und dann sind da noch Kleingruppen wie wir, die allem mit spöttischer Ironie begegnen und denken, sie seien deshalb erst recht cooler als die anderen und soviel näher am real Stucki dran – aber das sind wir halt auch.

Um 20 nach 8 geht’s los, Stucki on stage, natürlich in einer weissen Jeans, und nachdem er die ersten 15 Minuten von seinem Sohn erzählt (warum hab ich vergessen), mit dem er skypen soll, während er unterwegs ist, «weil Teile der Familie das so wollen», beginnt er aus seinem Buch vorzulesen, dessen Titel – jetzt fällt mir der Zusammenhang wieder ein – von seinem Sohn stammt. Das Schöne an Stuckrad-Barre ist, dass er spätestens nach zwei gelesenen Sätzen eine Zigarette anzündet, das Buch beiseite legt und eine seiner irren Assoziationsketten abfeuert, die völlig sinnlos und daher so sinnstiftend sind. R und S und E und ich lachen jedenfalls und zur Abwechslung mal nicht über, sondern mit dem Publikum. Als er über seine Zeit mit Helmut Dietl spricht wird er beinahe rührselig. Aber er darf das, Benjamin von Stuckrad-Barre hat es sich mit seinen Exzessen verdient, rührselig zu sein. Wer sich koksend und kotzend durch seine besten Jahre windet, darf das. Mir fehlt noch das Koks, immerhin, I’m halfway there. Vielleicht ja später, im Blitz. Es will schliesslich wie das Berghain sein und ich wie Benjamin.

Noch sind wir jedoch in der Muffathalle und applaudieren alle Fini oder Fimi oder Fimo Dietl, Helmuts Tochter, die auch im Publikum ist. Stuckiman bringt uns dazu, weil er einfach so lange weiterredet, so lange aus einem stillen Gedenken ein lautes Gezeter macht, bis wir alle klatschen. Für Fini oder Fimi oder Fimo, vielleicht heisst sie auch ganz anders, ich erinnere mich nicht mehr. Aber Stucki erinnert sich an alles, und er feiert diese Erinnerung in seinen Shows. Denn diese Erinnerung ist sein Leben, ist unser Leben, wie es war – oder eben auch anders – aber egal wie, es darf, nein MUSS gefeiert werden. Und keiner kann das besser als Benjamin von Stuckrad-Barre.

Eine Weile folgt er demselben Muster, er gibt uns, was wir wollen, warum hat mein Ex-Freund das nicht verstanden?! Wir wollen drüber stehen. Über uns, den anderen, über Berghain, Blitz und am liebsten sogar über Barre. Aber Benjamin wird uns immer einen Schritt voraus sein, und liefert den Beweis, als er für das grosse Finale plötzlich Joko Winterscheidt auf die Bühne komplimentiert, der mit ihm zusammen das letzte Stück vorliest. Diesen Schritt können R und S und E und ich nicht so ganz nachvollziehen. Noch nicht jedenfalls. Stage-diving okay, Angels von Robbie Williams singen okay, Selfie mit dem Publikum machen okay, das Handy rumgeben und die Leute auf dem Selfie sich gleich selbst taggen lassen – «falls die Tastensperre reingeht, der Code ist 220813, das ist der Geburtstag von meinem Sohn» – auch das okay. Aber Joko? Erst als sich das Publikum zusammen rafft, um die beiden auf Händen zu tragen, als er von der Bühne hinab auf die Menge gleitet und aus Stuckiman Benjamin von Stuckrad-Barre wird, der sich tatsächlich über alle und jeden hinwegsetzt und über den Dingen schwebt, erst dann verstehen wir diesen letzten Trick, mit dem er uns alle überlistet. Das hat etwas Magisches, warum hat mein Ex-Freund das nicht verstanden?!

Irgendwann so um 23 Uhr verlässt The Stucki nach einem vorbildlichen, lehrbuchreichen, hochkonzentrierten, dekadent koketten, zweieinhalb-stündigen Flirt mit dem Publikum die Bühne und wir die Halle, weil die Lesung ja nur sowas wie das Vorglühen war und wir nun durch die Clubs ziehen wollen. Wir gehen über die Strasse zum Blitz. Es gibt zwei Schlangen: Members und Members only. Als wir schliesslich drinnen sind, im dunklen Raum, in dem Lichtblitze und nicht Assoziationsketten durch die Luft zucken, versuchen wir dem Bass zu folgen, strecken unsere Arme in die Höhe, doch die Hände greifen ins Leere. Da ist kein Benjamin, keine Magie, nicht mal Koks. Wir bleiben nicht sehr lange, stolpern auch nicht wie gewöhnlich aus dem Club in den Morgen, sondern gehen aufrecht, mit blanken Gesichtern in die Nacht, die gerade erst beginnt. Unschlüssig bleiben wir an der Kreuzung stehen, die Ampel ist rot, aber kein Fahrzeug weit und breit. Wir wissen nicht so recht, wie es jetzt weitergehen soll mit uns, mit dem Magier in der weissen Jeans, dessen Tricks uns euphorisch und gleichzeitig stumm zurück gelassen haben.

Die Ampel springt auf grün, aber wir bleiben stehen, unsere Panikherzen schlagen regelmässig und gleichgültig, nichts hat sich verändert.

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